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Herr Dr. Rüdiger, mit welchen digitalen sexuellen Übergriffen werden Kinder und Jugendliche heutzutage vor allem konfrontiert?
Wir haben es bei den Delikten vor allem mit „Sextortion“ zu tun, dem unerwünschten Zusenden pornografischer Medien, ebenso mit Cybergrooming. Dabei ist mir immer wichtig, die Begriffe zu klären, da mittlerweile sehr viel durcheinandergeht. Unter „Sextortion“, einem Kofferwort aus Sex und Extortion, Erpressung, versteht man klassischerweise, dass erwachsene oder jugendliche Täter Personen im Netz dazu bringen, vor der Webcam beispielsweise zu masturbieren. Sie erpressen die Opfer anschließend um Geld mit der Drohung, das gefilmte Material zu veröffentlichen.
Zu Sextortion zählt inzwischen aber auch im weiteren Sinne, wenn Kinder und Jugendliche sich gegenseitig Masturbationsvideos oder entsprechende -bilder schicken und den oder die andere damit zu weiteren sexuellen Handlungen erpressen. Auch das unerwünschte und strafbare Zusenden von pornografischen Medien, häufig in Form von Bildern des Geschlechtsteils, also einem sogenannten „Dickpic“, ist ein bei allen Altersstufen verbreitetes Delikt.
Dann werden Kinder und Jugendliche auch selbst zu Tätern?
Genau. Bei allen digitalen Delikten registrieren wir leider eine steigende Anzahl von Kindern und Jugendlichen als Tatverdächtigen. Für solche Tathandlungen unter Minderjährigen gibt es keinen etablierten Begriff zur Abgrenzung von organisierten Tätern, denen es um Geld geht.
Sextortion kann außerdem Auslöser für Cybergrooming werden. Nämlich dann, wenn die Täter die Videos nutzen, um weitere sexuelle Handlungen zu erpressen. Als Cybergrooming gilt das onlinebasierte Einwirken auf ein Kind zur Einleitung oder Intensivierung eines sexuellen Missbrauchs. Es steht nach Paragraf 176 Abs. 4 Nr. 3 und aus meiner Sicht auch Nr. 4 des Strafgesetzbuchs unter Strafe.
Muss der Täter dafür das Kind in der Realität treffen?
Nein, strafbar macht sich bereits, wer auf das Kind einwirkt. Entweder kommt es zu einem Treffen, bei dem der Täter das Kind physisch missbraucht, wir sprechen dann von einem „Hands-on-Delikt“. Beim „Hands-off-Delikt“ hingegen bringt der Täter das Kind online dazu, sexuelle Handlungen oder Ähnliches vor der Kamera auszuführen.
Der Täter muss übrigens kein Erwachsener sein. Wenn ein 14-jähriger Junge auf ein elfjähriges Mädchen einwirkt in der Hoffnung, dadurch sexuelle Handlungen zu ermöglichen, kann das juristisch gesehen bereits Cybergrooming darstellen. Es kommt nur auf die Einwirkung als solche an, nicht auf den Erfolg. Kinder und Jugendliche machen auch hier mittlerweile annähernd die Hälfte aller Tatverdächtigen aus.
Es gibt kaum offizielle Zahlen zum Cybergrooming. Sie gehen davon aus, dass nahezu jedes Kind im Netz Opfer von Sexualdelikten wird. Ist das übertrieben?
Ich sage nicht, dass ein Kind Opfer wird, sondern dass ein Kind mit einem Sexualtäter im Netz konfrontiert wird. Dunkelfeldstudien zeigen bereits relativ hohe Viktimisierungszahlen bei digitalen Sexualdelikten gegenüber Kindern.
Damit diese aber von solchen Konfrontationen überhaupt berichten können, müssen sie die Situation auch erkannt haben. Das Kennzeichen von Cybergrooming ist aber gerade, dass Kinder nicht per se bemerken, wer der Kommunikationspartner ist und welche Absichten er hat. Wenn ein Erwachsener sich beispielsweise in einem Online-Game als gleichaltriger Mitspieler ausgibt und länger auf das Kind einwirkt, kann es ja sein, dass das Kind den Kontakt abbricht, weil es kein Interesse hat. Trotzdem hat das strafrechtliche Einwirken, das Cybergrooming, stattgefunden.
Dabei muss man auch festhalten, dass Täter offenbar kaum Angst vor Strafverfolgung haben und daher sehr aggressiv und offen vorgehen. Ein Polizist, der sich als Kind im Netz ausgibt, um Täter zu überführen, hat mal gesagt, es sei, als wenn man ein Stück Fleisch in ein Becken voller Piranhas hält – so aggressiv sind Täter! Diese geringe Angst vor Strafverfolgung deckt sich auch mit einer nur sehr niedrigen Anzeige-, aber einer hohen Aufklärungsquote für die Täter. Diese betreiben aufgrund der geringen Angst vor Strafverfolgung nur geringe Maßnahmen, um die Strafverfolgung zu behindern, was wiederum in hohe Aufklärungsquoten münden kann.
Insofern nehme ich tatsächlich an, dass kaum ein Kind im Netz aufwächst, das nicht wenigstens einmal mit einem Täter konfrontiert wird. Kinder müssen daher auf diese Risiken vorbereitet werden.
Wie kann das gehen?
Früher war ich überzeugt, dass Medienkompetenz der beste und eventuell auch einzige Schutz ist. Die aktuelle „EU Kids Online“-Studie hat mich aber nachdenklich gemacht. Dort heißt es, vereinfacht ausgedrückt: Je höher die digitale Kompetenz eines Kindes ist, umso häufiger berichtet es von der Konfrontation mit digitalen Risiken. Das ist letztlich folgerichtig. Wenn Eltern das Gefühl haben, dass ihre Kinder sehr sicher im Umgang mit dem Internet sind, kontrollieren sie weniger. Die Kinder verbringen immer mehr Zeit im Netz und sind anfälliger für Risiken.
Können Sie Beispiele nennen?
Es gibt viele Fälle, in denen Kinder auf Sexualtäter im Netz reinfallen, obwohl sie in der Schule an Medienabenden oder ähnlichen Angeboten teilgenommen haben. Teilweise nutzen Täter auch Informationen und Bilder aus sozialen Medien von realen Kindern und kreieren damit täuschend echt erscheinende Fake-Accounts, mit denen sie dann Kinder ansprechen und in sexuelle Interaktionen zu verwickeln versuchen. Selbst wenn Kinder dann beispielhaft prüfen, ob die Accounts echt sind, stoßen sie auf die Daten zum realen Kind und gehen davon aus, dass es stimmt.
Man muss ganz klar sagen: Nur weil Kinder und Jugendliche eine gewisse Medienkompetenz erlangt haben, können sie nicht unbedingt einem erwachsenen Sexualstraftäter standhalten. Damit überschätzt man sie und schiebt auch ein wenig die Verantwortung auf die Kinder.
Was schlagen Sie als Prävention vor?
Leitfäden oder Medienabende für Schüler, Lehrende oder Eltern können ein erster und wichtiger Ansatz sein. Ich rate Eltern aber vor allem, sich bewusst zu machen, dass sie die Kinder mit dem eigenen Smartphone in einen globalen Kommunikations- und Interaktionsraum entlassen, auf den man sie genauso gut wie auf den Schulweg vorbereiten muss. Diesen läuft man auch vorher ab, man vermittelt Risiken und verfügt natürlich über eigene Erfahrungen mit dem Straßenverkehr.
In der digitalen Welt gibt es gegenwärtig keine wirksamen gesellschaftlichen Schutzmechanismen wie rote Ampeln oder Bürgersteige. Eltern müssen diese Orte daher selbst auskundschaften. Nur so können sie Einfallstore für Täter wahrnehmen. Ein Bekannter hatte sich zum Beispiel probeweise als Kind bei einem Online-Spiel angemeldet und wurde bereits am ersten Tag gefragt, ob er denn schon einen „Schwanz“ habe. Solche Erfahrungen sensibilisieren.
Wenn Ihr Kind ein neues soziales Medium oder Online-Spiel nutzen will, installieren Sie es sich auf Ihrem Rechner zuerst selbst und probieren es einige Wochen lang intensiv aus.
Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger, Cyberkriminologe
Mein Ratschlag also: Wenn Ihr Kind ein neues soziales Medium oder Online-Spiel nutzen will, installieren Sie es sich auf Ihrem Rechner zuerst selbst und probieren es einige Wochen lang intensiv aus. Anschließend sprechen Sie mit Ihrem Kind darüber. Das kostet Zeit und ist vielleicht anstrengend. Aber wer auf sein Kind aufpassen möchte, kommt daran nicht vorbei.
Gleichwohl muss auch die Gesellschaft einen Weg finden, Kinder zu schützen, deren Eltern kein Interesse oder nicht die Fähigkeit haben, ihr Kind auf Risiken vorzubereiten.
Wie wichtig sind juristische Kenntnisse?
Aus meiner Sicht: sehr wichtig. Vor allem auch, da die Anzahl an minderjährigen Tatverdächtigen bei digitalen Delikten stetig steigt. Ich denke daher, dass wir eine Art Strafrechtskunde an Schulen etablieren sollten – am besten ab der Grundschule. Da sollte auch erklärt werden, womit Kinder und Jugendliche sich selbst strafbar machen können. Denn, seien wir ehrlich, woher sollten denn Eltern dieses Wissen haben?
Stellen wir uns zum Beispiel zwei 13-Jährige vor, die ihre erste Beziehung miteinander haben. Der eine wird 14 und bittet seine Freundin dann um ein Masturbationsvideo. Das ist in dem Moment Kinderpornografie. Außerdem machen sich beide strafbar, auch wenn die 13-Jährige wegen der Schuldunmündigkeit nicht bestraft werden kann. Trotzdem kann eine Straftat vorhanden sein.
Auch muss die Opfersicht verstärkt bei allen digitalen Delikten von Cybermobbing bis Cybergrooming kommuniziert werden. Denn für das Opfer spielt es wohl keine Rolle, ob es von einem 12-Jährigen, einem 20-Jährigen oder einem 55-Jährigen missbraucht wird.
Haben Sie weitere praktische Tipps für Kinder und Jugendliche?
Mein erster Ratschlag wäre natürlich, als betroffenes Kind zu den Eltern zu gehen. Viele Kinder und Jugendliche machen das aber meiner Erfahrung nach nicht, weil sie fürchten, dass ihnen dann das Handy abgenommen wird. Da sind die Eltern aufgefordert, den Kindern von Anfang an zu sagen, dass sie nicht schuld an den sexuellen Übergriffen im Netz sind und dass man gemeinsam Lösungen finden wird.
Und natürlich können Kinder und Jugendliche immer die Polizei ansprechen. Jede Wache steht ihnen offen.
Kompendium „Digital- und Medienkompetenz im Schulalltag“
Das Kompendium führt die Unterrichtsmaterialien der vergangenen Monate, die mit Unterstützung von Facebook entstanden sind, zusammen zu den Themen „Fake-News“, „digitale Zivilgesellschaft“, „Rassismus“, „Verschwörungstheorien “ sowie „Cybermobbing und Sexting“.
Bekämpfung sexueller Ausnutzung bei Facebook
Facebook stellt für Jugendliche, Pädagogen und Betreuer eine Plattform zur Bekämpfung von sexueller Ausnutzung bereit. Sie wurde von dem US-amerikanischen und durch die Schauspieler Ashton Kutcher und Demi Moore mitgegründeten Unternehmen Thorn entwickelt und von Facebook angepasst.
Auf dem Hub finden sich viele praktische Tipps: Zum Beispiel, dass man immer „Nein“ sagen kann, wenn einen jemand im Netz um etwas bittet, was man nicht möchte. Außerdem sollte man die gesamte Unterhaltung mit der Person, die einen bedroht, abspeichern. Andere können dadurch besser nachvollziehen, was geschehen ist.
Außerdem können Inhalte und Profile bei Facebook natürlich auch zur Überprüfung gemeldet werden. Wenn man Facebooks Meldefunktion nutzt, kann man beispielsweise die Kategorie „Belästigung“ auswählen. Inhalte, die gegen unsere Gemeinschaftsstandards verstoßen, werden entfernt. Darunter fallen zum Beispiel auch intime Bilder, die ohne Einwilligung weiterverbreitet werden.