Frau Velten, was genau ist mit Selbstwirksamkeit gemeint?
Katrin Velten: Selbstwirksamkeit lässt sich als Glaube an die eigenen Handlungsfähigkeiten und -möglichkeiten definieren, um ein bestimmtes Vorgehen erfolgreich zu organisieren und durchzuführen, sprich Herausforderungen zu bewältigen. Ein praktisches Beispiel: Für die Lösung einer komplexen Rechenaufgabe sind nicht ausschließlich meine tatsächlichen mathematischen Kompetenzen relevant, sondern vielmehr die Überzeugung, dass ich die notwendigen Fähigkeiten habe, sie zu lösen. Dieser Glaube ist sehr machtvoll!
Prof.´in Dr. Katrin Velten, Jahrgang 1979, war Grundschullehrerin sowie Fachleiterin für den Vorbereitungsdienst, bevor sie 2011 zunächst als Lehrerin im Hochschuldienst und ab 2012 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an die Universität Bielefeld wechselte. Bis 2022 lehrte und forschte sie dort mit den Schwerpunkten Grundschulpädagogik und Kindheitsforschung. Seit 2022 ist sie als Professorin für Bildung in der Kindheit an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin tätig. In ihren Büchern „HandlungsSpielRäume. Selbstwirksamkeit von Kindern im Übergang von der Kita in die Grundschule“ und „Kinderstärkende Pädagogik in der Grundschule“, letzteres gemeinsam mit Prof.`in Dr. S. Miller, befasst sie sich mit der Selbstwirksamkeit von Kindern und deren Stärkung.
Wie entwickelt sich Selbstwirksamkeit?
Im Prinzip von Geburt an. Tatsächlich ist Selbstwirksamkeit ein dynamisches Persönlichkeitsmerkmal. Das bedeutet: Man häuft nicht entsprechende Erfahrungen an und ist dann irgendwann selbstwirksam und bleibt es. Vielmehr liegt es im Wesen von Selbstwirksamkeit, dass sie nicht gleichbleibend stabil ist, sondern schwankt und situations- und kontextabhängig ist. Eine einzelne Selbstwirksamkeitserfahrung ist nicht einfach auf alle Lebenssituationen übertragbar. Daher ist es besonders wichtig, dass Kinder schon ab frühestem Alter möglichst viele, ganz unterschiedliche Erfahrungen von Erfolg machen können. Diese Bewältigungs- und Kompetenzerfahrungen sind die allerwichtigste Quelle für Selbstwirksamkeit. Voraussetzung ist dabei, dass das, was ich bewältigen möchte, auch wirklich herausfordernd für mich ist, also eine echte „Knacknuss-Aufgabe“. Wenn ich vorher noch nicht weiß, wie etwas geht, aber das Vertrauen habe, es zu schaffen, das ist Selbstwirksamkeit. Im Umkehrschluss heißt das: Je weniger derartige Selbstwirksamkeitserfahrungen ein Kind macht, desto weniger kann es diesen Glauben entwickeln.
Was passiert, wenn Menschen nicht selbstwirksam sind?
Wie in vielen Bereichen gilt auch bei der Selbstwirksamkeit: Was Kinder nicht für sich erfahren, wird im Erwachsenenleben umso schwieriger. Menschen, die sich wenig selbstwirksam erleben, neigen vor einer Herausforderung zu Aussagen wie „Das schaffe ich nicht“ oder „ich bewirke damit sowieso nichts“, oder nach der Bewältigung z.B. zu Aussagen wie „Ach, das war auch nicht so schwer“ oder „Das war Zufall“. Sie trauen sich und ihrer Wirkungskraft vorher weniger zu und schreiben ihren Erfolg nachher weniger sich selbst zu, sondern schieben viel auf die Rahmenbedingungen. Für Kinder, die wenig selbstwirksam sind, also denen wesentliche Erfahrungen fehlen, wird es so schwieriger sein, bewusste Entscheidungen zu treffen. Wenn wir möchten, dass unsere demokratische Gesellschaft aus mündigen Bürger:innen besteht, die das Land mitgestalten und etwas bewirken wollen, dann müssen wir im Vorfeld die Bedingungen schaffen, unter denen Kinder diese Fähigkeiten erwerben können. Da sind natürlich auch die Schulen gefragt.
Wie können Lehrkräfte Schülerinnen und Schüler bei dem Erwerb von Selbstwirksamkeit unterstützen?
Die Unterstützung von außen ist bei Selbstwirksamkeitserfahrungen wesentlich. Forschungen haben ergeben, dass Ermutigung und gutes Zureden zwar auch eine Quelle von Selbstwirksamkeit sind, aber: Viel wichtiger ist es, den Kindern zu ermöglichen, die gemachten Erfahrungen auf sich und ihre eigenen Fähigkeiten zurückzubeziehen. Das klappt gut, indem man mit ihnen über die Lösungswege spricht – und zwar im Vor- und im Nachhinein.
Ein Beispiel: Ein Kind will auf einen Baum klettern. Vielleicht hat es schon Erfahrungen im Klettern, etwa an einer Kletterwand. Dabei hat es bereits gelernt, wie es Arme und Beine kombinieren und richtig zugreifen muss, um sicher zu klettern. Mit dieser Erfahrung im Gepäck steht es nun vor einem Baum und überlegt, wie es da hochkommen soll. An dieser Stelle kommt die Selbstwirksamkeit ins Spiel. Das Kind weiß aus Erfahrung, wie es beim Klettern seinen Körper einsetzen kann und beschließt, dieses Wissen auf die „Herausforderung Baum“ zu übertragen. Dieses Reflektieren der Situation ist entscheidend, und dabei können die Erwachsenen helfen. Hilfreicher als „Du schaffst das schon“ wäre in dieser Situation, die Lösungsmöglichkeiten auf Grundlage der Klettererfahrung des Kindes gemeinsam durchzugehen und etwas Konkretes zu sagen wie „Ich glaube an dich, weil du sowas schonmal geschafft hast, damals an der Kletterwand.“ Wenn das Kind dann vom Baum wieder runtergeklettert ist, können wir ihm helfen, die Bewältigung auf seine eigenen Fähigkeiten zurückzubeziehen.
Welche Rolle können handwerkliche Tätigkeiten – Bauen, Basteln & Co. – bei der Entwicklung von Selbstwirksamkeit spielen?
Grundsätzlich entwickelt sich Selbstwirksamkeit aus der Erfahrung, Herausforderungen zu meistern. Je mehr Erfahrungen ein Kind zur Bewältigung unterschiedlicher Aufgaben macht, desto besser. Wenn ich als Lehrkraft ein allseitiges Verständnis von Bildung habe – mich also nicht auf klassische schulfachnahe Kompetenzen beschränke, sondern auch kreativ-musische und körperliche Kompetenzen mit einbeziehe –, dann besteht die Möglichkeit, dass ein Kind so etwas wie eine generelle Selbstwirksamkeitserwartung entwickelt.
Nehmen wir als Beispiel den Bau eines Vogelhäuschens, in der Schule: Dabei werden durchaus verschiedene Bereiche angesprochen. Es ist eine künstlerische Betätigung, man muss etwas ausmessen (Mathe), man muss sich verständigen, vielleicht eine Anleitung lesen (Deutsch), man muss feinmotorisch arbeiten, überlegen, welche Funktion ein Vogelhaus hat (Sachunterricht) und so weiter und so fort. Handwerkliche Tätigkeiten bedienen also gleich mehrere Lernbereiche. Im Zusammenhang der allseitigen Bildung kann das Bauen also durchaus die Selbstwirksamkeit stärken.
Handwerkliche Tätigkeiten bedienen gleich mehrere Lernbereiche.
Katrin Velten, Professorin für Bildung in der Kindheit
In Ihrer Forschung spielt der Aspekt der Partizipation der Kinder am schulischen Leben eine große Rolle. Wie weit sollte Ihrer Ansicht nach die Mitbestimmung von Schüler:innen gehen?
Partizipation im Sinne von Mitbestimmung ist eine enorm wichtige Quelle von Selbstwirksamkeit. Ich halte es für essenziell, dass Schülerinnen und Schüler in allen sie betreffenden Bereichen auch mitbestimmen und die Erfahrung machen können, dass diese Mitbestimmung auch etwas bewirkt. Die Frage ist, in welcher Weise das z.B. mit den Lehrkräften ausgehandelt wird. Natürlich ist nicht daran zu rütteln, dass die Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen müssen. Aber: Beim Wann und Wie und in vielen anderen Inhalten sollten Schülerinnen und Schüler mitreden. Sowohl in meiner wissenschaftlichen Forschung als auch subjektiv als Grundschullehrerin und Mutter habe ich festgestellt, dass Kinder sehr wohl ein Wörtchen mitreden können und wollen. Und gemeinsam mit den Lehrpersonen entscheiden, angefangen bei Themenvorschlägen, oder wie sie lernen, zum Beispiel bei der konkreten Mitgestaltung des Unterrichts und Schullebens.
Wie würden Sie den Stand in Schulen in Sachen Partizipation und Selbstwirksamkeit beschreiben?
Die aktuelle Bildungslandschaft in Deutschland ist leider wenig selbstwirksamkeitsfördernd. Das belegt auch meine Forschung. In zahlreichen qualitativen und quantitativen Studien wurden Schüler:innen nach ihrer Partizipation gefragt. Alle hatten durchweg das Ergebnis, dass sie sich in der Schule als weniger mitbestimmend erleben. Das zeigt doch, dass da noch ein größeres Entwicklungspotenzial an den Schulen ist!