Tom Siesing liebt Holz. „Die Maserung, der Geruch, die Haptik“, schwärmt er. „Holz ist außerdem nachwachsend, meist überall verfügbar, zudem leicht und stabil zugleich.“ Tom weiß, wie man aus Holz eine Bank baut oder einen Sägebock oder gleich eine ganze Outdoor-Küche. Seine Begeisterung für Handwerk und Holz teilt er mit seiner Frau Monika. „Ich habe eine große Leidenschaft für alte Holzmöbel. Ich finde es faszinierend, dass dieses Material so viele Jahrzehnte übersteht. Jede Holzart hat einen einzigartigen Charakter“, sagt sie. Monika mag es besonders, Möbelstücke zu bauen und zu restaurieren. Das nötige Know-how hat sie sich – genauso wie Tom – selbst beigebracht.
Die Siesings sind Handwerk-Influencer:innen und Autodidakt:innen. Zusammen haben sie ein 11.000 Quadratmeter großes Waldgrundstück gekauft, auf dem sie kleinere und größere Projekte umsetzen. Auf YouTube kann man ihnen dabei zusehen. Ihre Videos werden millionenfach angeklickt, ihre beiden Kanäle haben zusammen mehr als 100.000 Abonnent:innen. DIY – das Selbermachen – liegt spürbar im Trend.
In Lehrplänen von Schulen spiegelt sich dieser Trend allerdings selten wider, insbesondere an Gymnasien. Dort geht es eher darum, Goethe zu interpretieren oder das Futur II von „to make“ zu konjugieren. Die Dreifelderwirtschaft zu verstehen, die Französische Revolution und den Satz des Pythagoras. Alles an einem Schultag. Wichtige Inhalte, aber eben viel Theorie und wenig Praxis. Der Kopf ist gefordert, die Hände werden vor allem zum Tippen gebraucht. Ein Fehler, findet Tom Siesing: „Das Schulsystem muss überholt werden. Handwerk ist unglaublich wichtig und sollte fest in den Lehrplänen verankert werden.“ Er sieht die Gefahr, dass handwerkliches Können sonst über die Generationen verschwinden könnte. Die Schule sei genau der richtige Ort, um jungen Menschen zu zeigen, was sie alles schaffen könnten, meint Monika. „Eigene kleine Projekte anzugehen, sie zu Ende zu bringen und dann stolz auf das Ergebnis zu sein – das ist doch die beste Vorbereitung, um das eigene Leben in die Hand zu nehmen.“
Handwerkswissen sichern
Die Sorge, dass handwerkliches Wissen verloren geht, ist nicht unbegründet. Das zeigt eine aktuelle Studie des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA). Danach gab es 2022 im Durchschnitt knapp 240.000 offene Stellen in überwiegend handwerklichen Berufen – ein Rekordwert seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2010. Gleichzeitig gab es gut 120.000 Arbeitslose in den entsprechenden Bereichen. Selbst bei perfekter Vermittlung in offene Stellen war die Hälfte unbesetzt geblieben. Besonders viele Fachkräfte fehlen laut der Studie im Bauhandwerk und bei der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik. Berufe, die für die Umsetzung der Energiewende und die Erreichung der deutschen Klimaziele unmittelbar relevant sind. Unter dem Motto „#Fachkräfteland – Gemacht für was Großes“ wirbt das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz folgerichtig für Berufe, in denen der Nachwuchs fehlt, etwa Heizungsbauer:innen oder Mechaniker:innen.
Der Satz des Pythagoras wäre viel leichter zu verinnerlichen, wenn die Lehrkräfte mit den Schüler:innen auf eine unebene Fläche gehen würden, um dort ein Quadrat abzustecken.
Tom Siesing, Handwerks-Influencer
Schulen könnten hier einen Beitrag leisten, indem sie jungen Menschen früh Berührungspunkte mit dem Handwerk bieten. In Werk-AGs, im regulären Unterricht oder in Projekten mit außerschulischen Kooperationspartnern könnten Schüler:innen sich ausprobieren und verborgene Talente entdecken. Der Geruch von frisch geschlagenem Holz lässt sich nicht durch Bücher vermitteln, man muss ihn selbst erleben. Ein Vogelhäuschen selbst zu bauen, löst eher Leidenschaft fürs Werken aus, als die Flächen der Bauteile zu berechnen. Ideal wäre es, Theorie und Praxis zu kombinieren, sagt Tom Siesing: „Der Satz des Pythagoras wäre viel leichter zu verinnerlichen, wenn die Lehrkräfte mit den Schüler:innen auf eine unebene Fläche gehen würden, um dort ein Quadrat abzustecken.“ Genau vor dieser Herausforderung stünde er selbst oft bei seinen Projekten.
Fliegende Fahrräder und Badewannen-U-Boote
Das Handwerk bietet neben guten Karrierechancen auch viel Raum für Kreativität. Das beweisen die YouTuber von „The Real Life Guys“ jede zweite Woche mit neuen, ausgefallenen DIY-Videos. Ein fliegendes Fahrrad haben die Hobbyhandwerker schon gebaut und ein U-Boot aus einer Badewanne. In wenigen Jahren hat das Team um Johannes, Julius und Daniel mehr als 1,6 Millionen Abonnent:innen gewonnen. „Wir wollten schon immer selbst etwas auf die Beine stellen“, erzählt Johannes. „Und in unserer Schulzeit hatten wir ehrlich gesagt selten das Gefühl, dass wir wirklich viel bewegen können.“ Also: Abi gemacht und dann Kindheitsträume verwirklicht. Flugzeug oder U-Boot bauen, verrückte Sachen umsetzen eben. „Mich persönlich fasziniert der Gedanke, etwas mit den eigenen Händen zu erschaffen“, sagt Johannes. Julius, Kameramann beim YouTube-Kollektiv, ergänzt: „Es ist total wichtig, schon früh kreativ zu werden und nicht nur Zeit mit Social Media oder in der Virtual Reality zu verbringen. Es muss auch immer darum gehen, seine Träume im echten Leben zu verwirklichen.“
Nun träumt nicht jede:r Jugendliche davon, selbst ein U-Boot zu bauen. Doch viele Schüler:innen haben verzerrte Vorstellungen von handwerklichen Berufen und neigen daher weniger dazu, sie zu ergreifen. Zu diesem Ergebnis kommt eine vom Bundesinstitut für Berufsbildung herausgegebene Studie zur Attraktivität von Ausbildungsberufen im Handwerk. Junge Menschen unterschätzten insbesondere die technischen Neuerungen, die im Handwerk entwickelt würden, so der Studienautor Till Mischler. Er plädiert dafür, die Berufsorientierung in Schulen auszubauen und mehr Kenntnisse über handwerkliche Berufe zu vermitteln. Zudem könne „vielleicht gerade in den Gymnasien […] ‚praktisches Tun‘ den Blick auf Handwerksberufe verändern“. Für Monika Siesing ist das der richtige Ansatz: „Ich finde es wichtig, zu wissen, wie man selbst etwas mit den eigenen Händen schaffen kann. Das verändert auch die Wertschätzung fürs Handwerk.“
Mehr Aufklärung und echte Kontakte mit Handwerksberufen: Mit beiden Maßnahmen könnten Schulen dazu beitragen, Schüler:innen für diese zu gewinnen. Zumal es der jungen Generation bei der Berufswahl wichtig ist, etwas zu tun, das sie als sinnvoll empfindet. Handwerkliche Berufe können genau dieses Bedürfnis stillen. Tom Siesing beobachtet das auch in seiner YouTube-Community: „Wir denken, dass die Menschen vermehrt wieder anfangen, selbstwirksam zu sein.“ Noch heute bekomme er Bilder und Nachrichten zu einem Video, die sagten: „Toll, wegen deines Videos habe ich einfach mal angefangen und losgelegt. Es war gar nicht so schwer!“