Mit Unterstützung von ZEIT für Lehrer und der Google News Initiative
Herr Chammon, wenn Sie Schulen in Dänemark mit Schulen in Deutschland vergleichen: Was ist im Hinblick auf die Digitalisierung der größte Unterschied?
Der Faktor Zeit. Das Thema Digitalisierung stand in Dänemark und anderen Ländern Skandinaviens erstmals vor ungefähr 15 Jahren ganz weit oben auf der schulischen und politischen Agenda. Und während in Deutschland momentan viel über die Ausstattung an den Schulen gesprochen wird – über WLAN-Anschlüsse, Steckdosen, Lernplattformen und Computer –, verfügen die Skandinavier bereits seit vielen Jahren darüber und haben damit Erfahrungen gemacht. Die meisten kommen dadurch gut durch die Corona-Krise.
Warum waren die Dänen denn so viel früher mit der Digitalisierung dran als die Deutschen?
Das mag daran liegen, dass Dänemark ein vergleichsweise kleines Land ist und entsprechend schneller agieren kann als ein „föderales Bildungsschiff“ wie die Bundesrepublik mit zahlreichen Akteuren, wie Schulleitern, Schulträgern, Schulaufsichten und Landesinstituten. Außerdem gab es in Dänemark schon früh den Wunsch und den Anspruch, dass die Schule die Gesellschaft spiegeln soll. Und die war digitalisiert.
Dieser Prozess hat sicher seine Schattenseiten – die Dänen werden mitunter als „gläserne Bürger“ bezeichnet. Aber es gibt auch viele Vorteile. Jeder Däne bzw. jede Dänin verfügt beispielsweise über eine eigene Personalnummer, und möchte ein Kind die Schule wechseln, gibt man die Personalnummer erst in der alten, dann in der neuen Schule an – fertig! In Deutschland muss man eine Umschulungskarte besorgen, die die Eltern dann von Schule A zu Schule B bringen. Anschließend wird die Schulakte per Post zugestellt.
Was können die Deutschen vom Unterricht der Dänen lernen?
Sie können unter anderem aus den Fehlern der Dänen lernen! Eigene Tablets oder Computer sind in Krisensituationen wie der jetzigen unabdingbar für selbstgesteuertes Lernen. Aber eine Evaluation des dänischen Bildungsministeriums hat ergeben, dass es nicht allein um eine 1:1-Ausstattung geht. Genau das ist in den Anfängen der dänischen Digitalisierung aber angestrebt worden, anstatt auf gute pädagogische und didaktische Konzepte zu setzen und das Potenzial digitaler Medien für das Lehren und Lernen vollständig auszuschöpfen.
Die Schulen haben damals keine neuen Bücher mehr angeschafft – alles sollte digital sein. Das hat einerseits einen Markt geschaffen für hervorragende digitale und interaktive Lernmedien. Anderseits hat man als ein Fazit der Evaluation gesehen, dass Ausstattung und Infrastruktur allein noch keinen guten Unterricht machen. Am besten funktioniert eine gute Mischung von digitalen und analogen Medien.
Wie sieht die zum Beispiel aus?
Man stellt Grundschulkindern die Aufgabe, ein Vogelhaus zu bauen, und lässt sie diese Tätigkeit digital begleiten. Vielleicht müssen sie online eine Bauanleitung finden und den Fertigungsprozess auf einer Website dokumentieren. Dabei geht es nicht in erster Linie um das Arbeiten mit einem Tablet. Die digitalen Medien sind vielmehr ein unterstützendes Tool. Genauso ist es im Kunstunterricht wichtig, haptisch Materialien zu erfahren. Grundsätzlich sollte der Umgang mit neuen Medien die Kinder und Jugendlichen zu Produzentinnen und Produzenten machen, nicht zu Konsumenten. Um dorthin zu gelangen, benötigt man Geräte und eine entsprechende Infrastruktur. Außerdem einen Kompetenzzuwachs. Also Kollegen und Kolleginnen, die wissen, was gutes digital gestütztes Lernen ist.
Wie kann ich als Lehrkraft meine Kompetenz erweitern?
Man hat während der Corona-Krise in Deutschland gesehen, dass viele Lehrkräfte alles Mögliche tun, um mit den Schülerinnen und Schülern in Kontakt zu bleiben. Jetzt geht es darum, den Digitalisierungsschub aus der Krise zu verstetigen – denn wir wollen ja nicht „back to normal“. Und selbst in einer Schule, die weder über WLAN noch über technische Geräte verfügt, kann ich versuchen, mit den Kindern und Jugendlichen kreativ und digital zu arbeiten. Als ich 2005 als Lehrer in Dänemark anfing, steckte die Digitalisierung noch in den Kinderschuhen. Es war die Zeit der Klapphandys. Wir haben dann mit den vorhandenen, teilweise schulfremden Geräten improvisiert.
Wie könnte so ein Improvisieren heutzutage aussehen?
Wenn in einer Klasse vielleicht vier Kinder mit einem internetfähigen Handy und einer Flat sind, könnte man die Schülerinnen und Schüler in Kleingruppen aufteilen und sie gemeinsam mit Lern-Apps arbeiten lassen. Genauso könnte man den Lernenden Aufgaben für die Freizeit mitgeben und sie durch ein selbst gedrehtes Erklärvideo anleiten. Hier ist unglaublich wichtig, auf die Chancen- und Bildungsgleichheit zu achten. Und immer ist sicherzustellen, dass die verwendeten Apps kostenlos sind, über eine sichere Datenverarbeitung verfügen und dass es Zugang zu den entsprechenden Materialien gibt. Ich kann aber auch ein gewisses Zaudern nachvollziehen, denn es gilt, sehr viel zu bedenken und abzuwägen.
Was raten Sie?
Mutig zu sein und sich Verbündete zu suchen. Also die Schulleitung mit ins Boot zu holen, mit den Eltern zu sprechen und das Thema auf die Agenda der Gremien zu setzen. Ich denke, momentan ist ein guter Zeitpunkt, denn die Akzeptanz für die Digitalisierung im Bildungsbereich ist durch die Erfahrungen in den vergangenen Monaten sehr hoch.
Was können die Schulleitungen tun?
Jede Schule in Deutschland muss derzeit ein Medienkonzept erstellen und es einreichen, um über den Schulträger Geld vom „DigitalPakt Schule“ zu erhalten.
Wenn über den DigitalPakt viel Geld in Präsentationsoberflächen wie das interaktive Whiteboard fließt, finde ich das einerseits toll. Als Reformpädagoge stelle ich mir aber andererseits genauso die Frage, ob das Whiteboard wirklich mitten im Klassenzimmer hängen muss. Dort unterstützt es ja eigentlich nur den Frontalunterricht – und der könnte durch neue Lernsettings abgelöst oder um sie ergänzt werden.
Vielleicht kommt eine Schulleitung zu dem Schluss, dass sie nicht das allergrößte Whiteboard-Modell von 86 Zoll benötigt, sondern eine kleinere Variante, die in einer Ecke des Klassenzimmers platziert wird. Dort kann ich es als Lehrkraft mit einer kleinen Gruppe nutzen. Solchen Entscheidungen muss die Frage nach dem Leitbild der eigenen Schule vorangehen: Wie wollen wir Schule und Lernsettings gestalten? Wollen wir andere Formate als den klassischen Frontalunterricht erproben? Und wie kann ich in einer heterogenen Klasse alle Schülerinnen und Schüler erreichen? Die Digitalisierung kann hier ganz neue Ansätze eröffnen.
Können sich Schulleitungen und Lehrkräfte auch an das Forum Bildung Digitalisierung wenden?
Auf jeden Fall. Denn es ist ja unser Anliegen, mithilfe der Digitalisierung Themen voranzubringen, die zu einer anderen Lernkultur führen können. Ab September bieten wir beispielsweise wieder alle zwei Wochen die „Community Calls“ an – ein etwa einstündiges Online-Austauschformat für Schulleitungen, Lehrkräfte und andere Bildungsinteressierte. Wir haben in der Vergangenheit Gäste aus der Wissenschaft, wie die Bildungsforscherin Birgit Eickelmann, oder Schulleitungen aus der Praxis eingeladen, wir haben Konzepte diskutiert und uns ausgetauscht. Gewinnbringend für den Alltag eines oder einer jeden Einzelnen ist sicherlich auch, dass man sich durch die Veranstaltung gut vernetzt. Aus meiner eigenen Erfahrung als Schulleiter weiß ich, dass es oft am einfachsten ist, unbürokratisch jemand zu fragen, der oder die sich gut auskennt. Das hilft – und schweißt zusammen.
Forum Bildung Digitalisierung
Das Forum Bildung Digitalisierung gestaltet den digitalen Wandel im Bildungsbereich.
Im Zentrum der Arbeit stehen die Chancen digitaler Medien für die Schul- und Unterrichtsentwicklung. Dafür gibt das Forum Empfehlungen, erarbeitet praktische Lösungen und leistet Orientierungshilfe bei schulischen Veränderungsprozessen. Innerhalb von Konferenzen und Werkstätten finden Akteure aus Bildungspraxis, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft eine Plattform für Austausch und Vernetzung. Im Forum engagieren sich derzeit acht deutsche Stiftungen: Deutsche Telekom Stiftung, Bertelsmann Stiftung, Dieter Schwarz Stiftung, Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, Robert Bosch Stiftung, Siemens Stiftung, Stiftung Mercator und Joachim Herz Stiftung.
Kostenfreies E-Learning-Paket
Als Lehrkraft erhalten Sie kostenfreien Zugriff auf ein E-Learning-Paket zu den Themen von „ZEIT für Lehrer – digital Unconference“: „Achtsamkeit & Resilienz“, „Digital & analog“, „Old School, New School“, „Cybermobbing“ und „Desinformation, Fake News“. Das videobasierte Lernmaterial ist praxisorientiert, mit Tipps für mögliche Problemsituationen im Schulalltag sowie weiterführenden Materialien.