Mit Unterstützung von ZEIT für Lehrer und der Google News Initiative
Herr Sommerhalter, was sind die Unterschiede zwischen Cybermobbing und Mobbing?
Cybermobbing erweitert die Facetten von Mobbing im echten Leben über einen neuen Raum – den virtuellen Raum. Das heißt, wenn ich früher auf dem Schulhof gemobbt wurde, konnte ich den Tätern aus dem Weg gehen, indem ich etwa mit einem anderen Bus zur Schule gefahren bin. Beim Cybermobbing ist man den Angriffen jederzeit schutzlos ausgeliefert. Auch wenn ich nachts um drei Uhr im Bett liege und gar nichts tue, kann ich Zielscheibe einer Attacke werden. Wache ich dann morgens auf, checke meine Emails oder lese Kommentare in den sozialen Netzwerken, ist das Gefühl der Ohnmacht besonders groß.
Wer sind die Opfer?
Ich spreche nicht gerne von Opfern, sondern lieber von Cybermobbing-Zielen. Zu so einer Zielscheibe kann jeder werden und in jedem Alter. Tatsächlich aber werden die Betroffenen immer jünger. Das liegt daran, dass inzwischen auch an Grundschulen Smartphones an der Tagesordnung sind und Cybermobbing sich vor allem über Messenagerdienste und soziale Netzwerke verbreitet.
Wie schaffe ich es, möglichst wenig in die Opferrolle zu rutschen bei einer Cybermobbing-Attacke?
Die oberste Prämisse ist, nicht zu reagieren. Klar: Wenn ein Pfeil auf einen zuschießt, ist bei vielen Menschen der wohl erste Impuls, ihn abzuwehren. Ein Schild auszufahren oder zurückzuschießen. In unseren Präventionskursen an Schulen bringen wir den Menschen aber bei, die Perspektive zu wechseln und einen Schritt zur Seite zu treten. Lass’ den Pfeil an Dir vorbeifliegen, wenn es geht! Natürlich gibt es Situationen, in denen das nicht funktioniert. Aber grundsätzlich ist unsere Empfehlung, auf einen Angriff nicht mit Gegenwehr zu reagieren und die Täter in den sozialen Netzwerken möglichst zu blockieren. Dann gilt es sich Hilfe zu holen. Man kann sich an die Betreiber des sozialen Netzwerks wenden. An Kollegen, Vorgesetzte, andere Vertrauenspersonen oder auch die Polizei. Wobei sich die Täter manchmal in Grauzonen bewegen, die sich strafrechtlich nicht verfolgen lassen und die für die Betroffenen trotzdem großes Leid bedeuten.
Peter Sommerhalter
ist seit 2017 Leiter für Prävention und Medienberatung beim Bündnis gegen Cybermobbing e.V. in Karlsruhe. Außerdem arbeitet er seit vielen Jahren als freiberuflicher Referent zum Thema „neue Medien“. Als Vater dreier Kinder und ehemaliger Schulelternsprecher kennt er die Bedürfnisse, Sorgen und Ängste von Lehrenden und Eltern sehr gut.
Wie häufig werden Lehrende Zielscheibe von Mobbing?
In Zahlen lässt sich das meines Wissens nach bislang nicht genau ausdrücken. Ich kenne aber zahlreiche Lehrkräfte, die Mobbing erlebt haben. Die Täter stammen aus den Reihen der Schüler, aus dem Kollegenkreis, manchmal sind es auch Eltern, die WhatsApp-Gruppen mit Titeln wie „Der darf unsere Kinder nicht mehr unterrichten“ gründen. Auch das ist Cybermobing.
Was raten Sie einer Lehrkraft, die Angriff einer Mobbing-Attacke wird?
Ich würde jedem Arbeitnehmer, insbesondere einem Lehrer, empfehlen, Öffentlichkeit beim Arbeitgeber herzustellen. Hierzu ein echtes Beispiel: Ein Lehrer findet bei Instagram in Zusammenhang mit seiner Schule eine Seite mit dem Titel „Beichten“. Jemand behauptet dort anonym als Beichte, besagter Lehrer habe ein Verhältnis mit einer bestimmten Schülerin. Deshalb bekomme sie immer so gute Noten. Der Lehrer wird namentlich genannt. Der Lehrer hat sich an uns gewandt, bevor er mit irgendjemand anderem darüber gesprochen hat, und er war zuerst erschrocken, als wir ihm rieten, zum Schulleiter zu gehen und die Kollegen einzuweihen. Weil das Schamgefühl trotz Unschuld natürlich immens ist. Er befürchtete, dass sich die vermeintliche Beichte als Gerücht in den Köpfen der Kollegen und Eltern festsetzt, wenn man ihr zu viel Aufmerksamkeit schenkt. Aber wenn man nichts unternimmt, lebt man als Betroffener in permanenter Angst, und irgendwann wird das Cybermobbing doch öffentlich. Das ist der Moment, in dem sich alle fragen, warum man als Betroffener so lange geschwiegen hat. Hat man am Ende doch etwas zu verbergen? Es ist wirklich wichtig, sich frühzeitig Unterstützung zu holen und Maßnahmen zu ergreifen. Wohl jeder Kollege wird mit Verständnis reagieren. Schließlich könnte er oder sie selbst Zielscheibe eines Cybermobbing-Angriffs werden.
Sollte der Lehrer die Attacke auch vor der Klasse thematisieren?
Das hängt vom Einzelfall ab. Im Fall unseres Beispiels konnten wir anhand von verschiedenen Anhaltspunkten Rückschlüsse auf die Identität des Täters ziehen. Wir haben dann in seiner Klasse eine Präventionsveranstaltung abgehalten und das Thema Instagram/ Beichtseiten besprochen. Wir haben klar gestellt, dass es sich bei der Verleumdung im Internet um eine Straftat handelt. Das hat dann dazu geführt, dass die Beichtseite aus dem Internet verschwunden ist. Die jungen Leute haben die richtige Entscheidung getroffen, bevor die Polizei ihre Arbeit aufgenommen hat.
Kann es sein, dass manchen Mobbern gar nicht klar ist, was sie tun?
Man kann natürlich Empathie bei Menschen wecken, denen wirklich nicht klar war, was sie da tun. Bei allen anderen greift diese Pädagogik leider nicht. Wir haben in unseren Studien nachgewiesen, dass die Cybermobbing-Attacken in den vergangenen Jahren immer intensiver und zielgerichteter geworden sind. Vor einigen Jahren hat man vielleicht jemandem auf einem Foto eine Pinocchio-Nase gemalt. Heute streamen die Täter live von der Umkleidedusche ins Internet und versehen die Übertragung mit Kommentaren wie: „Schaut euch mal den Wabbelarsch an“. Die Täter wissen in solchen Fällen ganz genau, wie schlimm das ist. Sie rechnen damit, sie wollen das Leid ja provozieren. Später lautet die Pauschalentschuldigung, man habe nur Spaß gemacht. Aber das stimmt meistens nicht. Da müssen wirklich ganz klare Regeln aufgestellt und Konsequenzen gezogen werden.
Wo können sich Lehrkräfte Hilfe holen?
Wir vom Bündnis gegen Cybermobbing sind bundesweit und in Österreich unterwegs. Wir halten Präventionskurse an den Schulen ab, für deren Teilnahme wir ein Zertifikat verleihen. In der Praxis sieht das so aus, dass wir einmal im Jahr in die fünften Klassen mit einem Impulsvortrag kommen. Danach arbeiten die Lehrkräfte mit den Schülern – nicht zuletzt, damit die Pädagoginnen und Pädagogen sich als Teil der Klassengemeinschaft begreifen. Als Abschluss präsentieren die Schüler die Ergebnisse ihrer Arbeit auf einem Elternabend in Form von Rollenspielen oder am Flipchart. Für die Schüler ist es eine gute Vertiefung ihres Wissens, und erfahrungsgemäß nehmen an solchen Veranstaltungen mehr Eltern teil, als wenn wir sie zu einem Vortrag über Cybermobbing einladen. Außerdem hat die Schule ein Jahr lang einen Anspruch auf eine kostenlose Beratungshotline zu uns. Die Lehrkräfte können anrufen, wenn beispielsweise ein Kettenbrief über WhatsApp im Umlauf ist und sie unsicher sind, wie sie damit umgehen sollen. Oder auch bei ganz konkreten Fällen. Wenn beispielsweise Tom erzählt, dass Lisa fertig gemacht wird. Da geben wir gerne Tipps und beraten. Außerdem vermitteln wir Ansprechpartner bei der Polizei und zu Rechtsanwaltskanzleien. In Zeiten von Corona können sich Lehrkräfte selbstverständlich auch über unsere Webinare fortbilden.
Kostenfreies E-Learning-Paket
Als Lehrkraft erhalten Sie kostenfreien Zugriff auf ein E-Learning-Paket zu den Themen von „ZEIT für Lehrer – digital Unconference“: „Achtsamkeit & Resilienz“, „Digital & analog“, „Old School, New School“, „Cybermobbing“ und „Desinformation, Fake News“. Das videobasierte Lernmaterial ist praxisorientiert, mit Tipps für mögliche Problemsituationen im Schulalltag sowie weiterführenden Materialien.