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Deutsch, Medienkunde, Politik/Gemeinschaftskunde

Ist YouTube noch ein Verschwende-deine-Jugend-Phänomen oder schon Kultur?

Von beidem ein bisschen, aber leider auch in vielen Fällen: der blanke Kommerz. Aktuell geht man davon aus, dass jede Minute 300 bis 400 Stunden Webvideos auf You­Tube hochgeladen werden. Schon allein aufgrund der schieren Masse an Uploads dürfen, ja müssen die sozialen Bewegtbild-Plattformen in vielen Fällen als Verschwende-deine-Jugend-Phänomen betrachtet werden – da ist schon viel Trash dabei. Wobei es vielleicht auch noch nie so einfach war, Bewegtbildinhalte herzustellen. Der Aufstieg der Bewegtbild-Plattformen korrespondiert mit dem Siegeszug der Handys und der flächendeckenden Verbreitung breitbandiger Netzverbindungen. Einfache Webvideos wie diese gehen aber zunehmend in der Masse unter, „quick and dirty“ hat als Produktionsweise ausgedient. Das ist etwas schade, die anarchische Phase hat ja auch viel Experimentelles hervorgebracht. Neue Genres sind entstanden, Jugendliche konnten sich in neuer Art und Weise ausdrücken und möglicherweise eine eigene Kultur des Bewegtbilds entwickeln.

Also doch Kultur?

Leider wurden sie dabei vom Markt überholt. Jetzt dominieren professionell gemanagte You­Tuber, die ebendiesen Markt unter sich aufteilen. Für Neues ist da wenig Platz, ebenso wenig wie für „die Kultur“, was ich jetzt mal als „gehaltvolle Inhalte“ übersetze. Frühere Kritiker des Fernsehens aus dem You­Tube-Bereich haben zwischenzeitlich sogar ein „öffentlich-rechtliches You­Tube“ gefordert, um das alte Experimentierfeld zurückzuholen – das ist schon lustig! Gleichwohl gibt es natürlich hochwertige Inhalte, nur das Finden fällt eben schwer. Das bemerken wir bei den Preisen, also insbesondere beim Grimme On­line Award. Hier kamen in den letzten Jahren immer wieder Preisträger aus dem You­Tube-­Bereich, von den Publikumspreisen möchte ich jetzt gar nicht sprechen.

Lars Gräßer
© Georg Jorczyk/Grimme-Institut

Lars Gräßer ist Kommunikationswissenschaftler und im Grimme-Institut in Marl zuständig für Medienbildung/Medienkompetenz, den Grimme Award und die Grimme-Akademie. Seit dem Jahr 2015 ist er zudem Pressesprecher des Grimme-Instituts.

Bei einigen YouTubern fragt man sich, wie so wenig Inhalt sie zu prächtig verdienenden Szene-Stars hat machen können. Liebt das Publikum sie vielleicht, gerade weil sie von gleich zu gleich reden?

Die wenigen existierenden Studien, beispielsweise von der Filmuniversität Babelsberg, legen in der Tat diesen Schluss nahe. Sie sprechen von einer „para­sozia­len Interaktion“ zwischen You­Tubern und Publikum. Dem Selbstverständnis nach betrachten sich die reichweitenstarken You­Tuber allerdings nicht als herausgehobene Stars, sondern als Macher, die vor ihrer und für ihre Community agieren, im ständigen Dialog mit ihr. Manchmal sehen sie sich auch als deren Dienstleister. Ob das passt, sei mal dahingestellt. In jedem Fall ist das ein bemerkenswerter Abschied von der Expertenkultur der Erwachsenen, aber auch vom traditionellen Starkult.

Wird denn das autoritative Gefälle, das die klassischen Medien prägte, wirklich aufgehoben? Oder ist das angesichts einiger Reichweitenkönige ein selbst gestrickter Mythos?

Wieder beides. Bei den eher erfolglosen, wenig reichweitenstarken Kanälen funktioniert das interaktive Mit­ein­an­der – jedenfalls noch. Sie erhalten den Mythos am Leben. Das ist die Masse, wobei die meisten Nutzer eher kommentieren und nicht vor der Kamera agieren. Wächst dann allerdings die Community eines You­Tubers, ist das interaktive Mit­ein­an­der kaum durchzuhalten. Das wäre viel zu aufwendig. Dann kommt das Management, und die Social-Media-Manager übernehmen – das autoritative Gefälle ist wieder da. Nur die wenigsten You­Tuber sind dazu bereit oder vielleicht in der Lage, diese Dynamik anzusprechen. Mir fällt da eigentlich nur Marie Meimberg ein, die offen sagt: Wir sind keine Freunde.

Wie offen ist die YouTube-Szene noch? Können Jugendliche dort heute allenfalls „Zuschauer 2.0“ sein, die ein paar Kommentare posten?

In Deutschland haben nur 40 Kanäle über eine Mil­lion Abonnenten, Profis allesamt. Seit 2007 besteht die Möglichkeit zur Monetarisierung. Und seitdem finden sich immer häufiger professionell produzierte Webvideos: ohne Wackler, gut ausgeleuchtet, vertont und geschnitten. Es hat einen Qualitätsschub gegeben, der gleichzeitig viele ausschließt. Gemeint ist die breite Masse der Jugendlichen. Broadcast yourself? War einmal! Zwar nennt rund ein Drittel der deutschen Jugendlichen in Jugendmedienstudien You­Tube als eines der bevorzugten Online-Angebote. Auch steigt die Anzahl der Jugendlichen, die ein eigenes Konto bei You­Tube haben. Aber sehr aktiv sind sie in der Breite trotzdem nicht. Zuschauer 2.0 finden sich nur wenige, auch das ist ein Mythos.

Oft unterscheidet sich das Web-Angebot der traditionellen Medienhäuser und Sender kaum von dem, was für das Fernsehen hergestellt wird. Verspielt man so das Besondere an der Web-Kultur?

Auf jeden Fall! Beim Grimme Online Award sprechen wir dann immer von „Web-TV“. In der Tat scheint sich immer noch nicht herumgesprochen zu haben, dass es sich bei den populären Bewegtbild-Plattformen um Social Media handelt. Hier ist einfach ein anderes Storytelling gefragt, eine andere Herangehensweise an bestimmte Themen. Das ist aber vor allem die Perspektive der Produktionsseite. Bei Vermarktung und Zuschauerbindung agieren die Großen immer souveräner. Gerade die Streaming-Anbieter machen hier vor, wie es geht. Man wird sehen, wie sich das entwickelt, wenn das Jugendangebot von ARD und ZDF online geht. Es adressiert eine Generation, die mit You­Tube aufgewachsen ist.

Dem Selbstverständnis nach betrachten sich die reichweitenstarken You­Tuber nicht als herausgehobene Stars, sondern als Macher.

Lars Gräßer

Das Grimme-Institut vergibt bereits seit dem Jahr 2001 den Grimme Online Award. Das reicht zurück in selige Web-1.0-Zeiten. You­Tube wurde vier Jahre später überhaupt erst gegründet. Weshalb war man denn hier so früh dran?

Da hatten die Erfinder einfach ein feines Gespür, namentlich Friedrich Hagedorn. Zwar ging es beim Grimme On­line Award zunächst um programmbegleitende Webangebote. Aber der Preis hat sich schnell davon emanzipiert. Das Web eta­blier­te sich in diesen Jahren als publizistische Sphäre, man sprach plötzlich von der Blogosphäre. Vor diesem Hintergrund hat sich auch der Grimme On­line Award entwickelt, wie wir ihn heute kennen: als Preis für publizistisch wertvolle Angebote. Es hat sicher mit der langen Kontinuität zu tun, dass er heute als „Internet-Oscar“ gefeiert wird.

Nimmt die Zahl der herausragenden Projekte oder Beiträge eigentlich proportional zum Wachstum der Onlinesphäre zu?

Eher nein. Die Zahl der Einreichungen – von Nutzern und Anbietern, darauf sind wir besonders stolz – schwankt jährlich zwischen 1000 und über 2000. Leider bedeuten mehr Einreichungen aber in vielen Fällen oft nur mehr Trash, wiewohl wir uns über jede einzelne freuen. Die Zahl der interessanten und relevanten Projekte schwankt dabei kurioserweise eher nicht, ebenso wenig die hier vorfindbare Qualität. Wobei sich die Kommissionen und Jurys schon manchmal echt schwertun. Immer ist es ein Ringen.

Das Fernsehprogramm wird immer stärker on­line rezipiert, „smarte“ Fernseher wiederum erlauben Zugriff auf Streams und Webportale. Werden auch der klassische Grimme-Preis und der Grimme On­line Award irgendwann verschmelzen?

Diese Frage kommt immer wieder, aber die Antwort lautet erst mal: Die Preise verschmelzen nicht. Nach 16 Jahren hat der Grimme On­line Award ein klares Profil. Er ist und bleibt der Qualitätspreis für Netzpublizistik. Als solcher achtet er unter anderem auf Webspezifik und Webästhetik. Wir müssen doch festhalten, dass sich TV und Web nach wie vor unterscheiden, selbst wenn sie technisch konvergieren mögen. Das gilt insbesondere mit Blick auf Rezeption und Distribution. Diese Entwicklung hat sich bereits niedergeschlagen in der aktuellen Reform des Grimme-Preises: Eingereichte Produktionen müssen künftig nicht mehr im Fernsehen ausgestrahlt worden sein, es reicht, dass sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. So öffnet sich künftig der Grimme-Preis für andere Distributionswege wie Mediatheken, Streaming-Dienste oder Video-­on-­Demand. Entscheidend ist und bleibt hier aber, dass ein Angebot „fernsehgemäß“ gestaltet wurde.

Und was wäre herausragend „webgemäß“? Was sind aktuelle Onlineprojekte, die den Juroren des Grimme-Instituts aufgefallen sind?

Aus dem Bewegtbild-Bereich ist das aktuell BrainFed, das Newsmagazin des You­Tubers Marik Roe­der alias DarkViktory. Alle 14 Tage geht es hier um Aktuelles, Politisches und das, was Jugendliche interessiert oder interessieren sollte – es ist für jüngere Zielgruppen gemacht. Das Besondere daran: BrainFed ist wohl das einzige animierte, redaktionell betreute News-Format in der deutschsprachigen You­Tuber-­Szene. Die bildmächtige Gestaltung ist dabei nicht alles, verlinkte Quellen bieten immer wieder die Möglichkeit zur Überprüfung und inhaltlichen Vertiefung. Schaut man abseits des Bewegtbild-Bereichs, ist vielleicht die Web­repor­ta­ge Jagd aufs Matterhorn der Neuen Zürcher Zeitung zu nennen. Das Matterhorn galt lange als unbesteigbarer Berg, eine Obsession für viele. Seine Erstbesteigung wird nicht nur in einem packenden Text vermittelt, mit 3-D-Animationen gelingt auch optisch ein ganz eigener Zugang, der in die Zukunft weist.

Spätestens mit der NZZ ist man wieder im Bereich der traditionellen Medienhäuser angelangt. Was setzt die YouTube-Community denn aus sich heraus dem Journalistischen entgegen?

Wer ganz andere Einblicke sucht, dem sei der Wanderschäfer Sven de Vries und sein Twitter-Kanal @schafzwitschern empfohlen. Er ist mit rund tausend Schafen und seinen beiden Hütehunden in Süddeutschland unterwegs, worüber er bildreich „zwitschert“. Eher nüchtern, aber dafür sehr authentisch twittert dagegen das Dresdner Twitter-Duo Johannes Filous und Alexej Hock seit März 2015 auf @streetcoverage über rechte Demos und Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, aber ebenso über Willkommensaktionen – auch dieser Kanal: absolut lesenswert.

Arbeitsanregungen

Subkultur, Kommerz oder Trash? Chancen und Grenzen von YouTube als Jugend-Gegenkultur diskutieren
a) Plenumsaufgabe: Fassen Sie im Plenum die Kernthesen des Kommunikationswissenschaftlers Lars Gräßer zusammen, und benennen Sie aktuelle Entwicklungen bei YouTube.
b) Plenumsaufgabe: Erörtern Sie, ob Ihre Erfahrungen mit YouTube mit der Analyse des Medienexperten übereinstimmen. Nennen Sie gegebenenfalls Beispiele.
c) Plenumsaufgabe: Erstellen Sie eine Übersicht Ihrer liebsten YouTube-Kanäle oder YouTube-Stars, und betrachten Sie gemeinsam eine Stichprobe an Clips. Tauschen Sie sich darüber aus, was diese YouTuber so beliebt macht. Schätzen Sie ein, ob es sich hierbei eher um private oder kommerzielle Videos handelt, und halten Sie fest, ob und woran Sie das als User festmachen können.