ZEIT für die Schule
Interview, Unterrichtseinheit
Für welche Fächer ist die Unterrichtseinheit geeignet?
Deutsch, Medienkunde, Politik/Gemeinschaftskunde

Als reine Informationswerkzeuge sind sie an sich weder gut noch böse. Im Zugriff von undemokratischen Regimen können Massenmedien sich als höchst gefährlich erweisen. Umso größer ist ihr Wert für Demokratien, denn Medien haben die Aufgabe, im Namen der Öffentlichkeit die Politik zu kontrollieren. Für diese „Watchdog“-Funktion sind zwei Voraussetzungen wichtig: Die Pressefreiheit muss gewährleistet und der Journalismus muss qualitätsvoll sein. Zu Letzterem gehört, dass unabhängig und transparent berichtet wird. Was aber zeichnet darüber hinaus gute journalistische Arbeit aus? Wie wird man überhaupt Journalist? Wie schützt der Staat die Medien? Was sind die zukünftigen Herausforderungen für diesen Berufsstand? Was lehrt die akademische Medienwissenschaft? Und betrachtet wird auch die Frage anhand der „Causa Böhmermann“, ob der Satire eine Grenze gesetzt ist.

Die „Causa Böhmermann“ – Satire wird Staatsaffäre

Unter der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan ist die Pressefreiheit in der Türkei in Bedrängnis geraten. Im März 2016 wurde die regierungskritische Zeitung Zaman unter staatliche Kontrolle gestellt. Leitenden Redakteuren der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet wird aus politischen Gründen der Prozess gemacht. Auf Eskalation setzt Erdoğan auch im Konflikt mit den Kurden. Diese Entwicklungen wurden am 17. März 2016 in einem Beitrag der Satiresendung extra 3 des Norddeutschen Rundfunks satirisch verarbeitet. Der türkische Präsident ließ daraufhin den deutschen Botschafter einbestellen und verlangte – vergeblich – die Entfernung des Beitrags mit dem Titel Erdowie, Erdowo, Erdoğan aus der ARD-Mediathek. Dieser (un)diplomatische Vorstoß wurde am 29. März bekannt.

Auf diese Vorgänge wiederum reagierte Jan Böhmermann in seiner ZDF-Satiresendung Neo Magazin Royale am 31. März. Der Beitrag auf extra 3, so Böhmermann, sei in Deutschland von der Kunstfreiheit gedeckt. Manche Dinge seien aber auch hierzulande verboten, etwa eine „Schmähkritik“. Er gab vor, dem türkischen Präsidenten demonstrieren zu wollen, was das sei, und zwar anhand eines Schmähgedichts eben über Erdoğan. Die 24 Verse im Paarreim geben sich als Satire schon dadurch zu erkennen, dass sie mit maßlosen Übertreibungen operieren. Der türkische Präsident wird unter anderem „schwul“, „pervers“, „verlaust“ und „zoophil“ genannt. Über weite Strecken geht es sexuell explizit zu. Mehrfach unterbrach Böhmermann seinen Vortrag für den Hinweis, dass das soeben Gesagte nicht erlaubt sei. Danach machte sich der Moderator im Gespräch mit dem Mitarbeiter Ralf Kabelka scherzhaft darüber Gedanken, wie Erdoğan rechtlich gegen das Geäußerte vorgehen könnte.

Das ZDF nahm nur wenige Stunden nach der Ausstrahlung die Sendung aus der Mediathek, weil sie den Qualitätsansprüchen des Senders nicht genüge. Man distanzierte sich aber nicht von dem Moderator. Aus dem Auswärtigen Amt verlautete kurz darauf, dass das Geäußerte möglicherweise strafbar sei. Bundeskanzlerin Angela Merkel telefonierte am 4. April 2016 mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu und nannte das Gedicht „bewusst ehrverletzend“ – diese vorverurteilend wirkende Einmischung in eine juristische Angelegenheit wurde von Merkel später als „Fehler“ bezeichnet. Die Staatsanwaltschaft Mainz nahm am 6. April Ermittlungen gegen Böhmermann auf. Schnell stellte sich heraus, dass hier der veraltete, aber noch gültige Paragraf 103 des Strafgesetzbuches anwendbar war. Demnach ist die Beleidigung eines Staatsoberhauptes (Majestätsbeleidigung) über die „normale Beleidigung“ hinaus schwerer zu bestrafen (mit bis zu fünf Jahren Haft). Dazu muss allerdings ein Antrag (Strafverlangen) der ausländischen Regierung vorliegen und die Ermächtigung der Bundesregierung erteilt werden. Beides ist Mitte April 2016 erfolgt. Daneben stellte Präsident Erdoğan als Bürger einen „normalen“ Strafantrag wegen Beleidigung.

Die Reaktionen der deutschen Medien waren vielfältig. Teilweise wurde darauf hingewiesen, dass geltendes Recht umgesetzt werden müsse, auch wenn der veraltete Paragraf schnell abzuschaffen sei. Mehrheitlich aber sah man die Meinungsfreiheit in Gefahr, weil die Bundesregierung sich nicht vor einen deutschen Künstler gestellt habe, sondern aus Rücksicht auf den „Flüchtlingsdeal“ mit der Türkei „eingeknickt“ sei. Die Diskussion drehte sich auch darum, welche Grenzen für eine Satire gelten.

Didaktischer Kommentar:
Informationen zum aktuellen Weltgeschehen stehen laut JIM-Studie an zweiter Stelle des Informationsinteresses von Jugendlichen. Sie recherchieren über Angebote des Qualitäts- und Boulevardjournalismus, betrachten professionelle und private Videos, lesen Userkommentare, die alle nur denkbaren Weltanschauungen widerspiegeln, und kommen mit politischer Propaganda, Unternehmenslobbyismus und Verschwörungstheorien in Kontakt. Um Heranwachsende auf eine konstruktive und kritische Auseinandersetzung mit diesen Informationsquellen vorzubereiten, ist Medienbildung als fächerübergreifendes Bildungsziel in den Lehrplänen aller Schularten verankert. Die Kommunikations- und Massenmedien stehen dabei im Fokus, da sie politische Prozesse mitgestalten, die öffentliche Meinungsbildung beeinflussen und über gesellschaftspolitisch relevante Themen informieren. Medienwissen, ein begründetes Urteilsvermögen und auch Handlungskompetenz auf diesem Feld sind somit die Voraussetzung für eine aktive und demokratische Teilhabe an Politik und Gesellschaft. Die Arbeitsaufträge zu diesem Kapitel erlauben einen differenzierten Unterricht, indem sie unterschiedliche Anforderungsbereiche, Unterrichtsmethoden und Sozialformen miteinander kombinieren. Neben Aufgaben zum Textverständnis und zur Interpretation der Materialien erwerben die Schülerinnen und Schüler Medienkompetenz durch eine eigenständige Recherche und Analyse von Inhalten im Internet und positionieren sich zu aktuellen gesellschaftspolitischen Kontroversen.

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Schlimm wäre, wenn Satiriker jetzt diplomatische Rücksichten nähmen

Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz zu den Auswirkungen der Böhmermann-Erdoğan-Affäre

Norbert Bolz
© TU Berlin/Ulrich Dahl

Prof. Dr. Norbert Bolz leitet das Fachgebiet Medienwissenschaft an der TU Berlin. Zu seinen Forschungssschwerpunkten gehören Netzwerklogik, Mediengeschichte und Kommunikationstheorie.

Was halten Sie von dem Gedicht Jan Böhmermanns auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan? Ist das Kunst, oder kann es weg?
Ästhetische Fragen sind hier nicht ausschlaggebend. Es geht um politische Satire, die immer wehtut und geschmacklos sein darf.

Hat der Satiriker sein Ziel damit voll erreicht? Schließlich hat er ja thematisiert, wie Erdoğan gegen die strafbaren Zeilen vorzugehen hätte.
Böhmermann ist wohl selbst darüber erschrocken, wie genau er die Skandalkarriere seiner Satire antizipiert hat. Aber ein Mann, der Polizeischutz braucht und einem Gerichtsverfahren entgegensieht, kann über seinen Coup nicht ganz glücklich sein.

Funktionieren Satire und Ironie nur innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Rahmens? Und müssen Satiriker bedenken, dass ihre Äußerungen jenseits dieses Raums anders aufgefasst werden?
Ja zur ersten, nein zur zweiten Frage. Die Satire war an das deutsche Publikum adressiert, nicht an Erdoğan, und in diesem Rahmen hat sie sehr gut funktioniert. Nichts wäre schlimmer, als wenn Satiriker jetzt anfangen würden, diplomatische Rücksichten zu nehmen. Freiheit hat im Kontext von Unfreiheit immer fatale Folgen.

Die Satire war an das deutsche Publikum adressiert, nicht an Erdoğan, und in diesem Rahmen hat sie sehr gut funktioniert.

Viele bedeutende deutsche Medien haben sich mit Böhmermann solidarisiert: Ist denn tatsächlich die Meinungsfreiheit in Gefahr?
Natürlich geht es für die Journalisten hier um alles, nämlich um die Meinungs- und Pressefreiheit. Diese Solidarität ist auch ein Akt der Selbstbehauptung eines Berufsstands.

Es scheint aber auch recht leicht, auf solche Weise viel Publicity zu bekommen. Sogar Trittbrettfahrer auf YouTube gab es, und der Ex-AfD- und neue Alfa-Vorsitzende Bernd Lucke nannte Jan Böhmermann „eine feige Drecksau“. Kommt man da schnell in eine Niveauspirale nach unten?
Ihre Frage beantwortet sich selbst. Aber das ist das Selbstverständlichste von der Welt. Die Missverständnisse und Missbräuche setzen schon eine Etage höher an. Ich habe bisher kaum einen Kommentar gelesen, der das, was Böhmermann wollte, überhaupt verstanden hat. Das könnte man übrigens auch als Kritik formulieren: Zu hoch reflektierte Satire funktioniert nicht.

Handelt es sich denn um ein singuläres Ereignis, das sich von früheren Satire-Affären unterscheidet?
Singulär ist es nicht, nicht einmal in Deutschland. Aber die politische Aufladung des Satire-Skandals war noch nie so groß. Denn Mohammed ist tot, aber Erdoğan lebt.

Die Bundeskanzlerin hat die Eröffnung eines „großen Verfahrens“ gegen den Satiriker Böhmermann gestattet. Zugleich soll der entsprechende Majestätsbeleidigungs-Paragraf 103 so schnell wie möglich aus dem Strafrecht entfernt werden. Ist das nicht absurd? Oder alternativlos?
Natürlich ist das absurd. Und die Regierung scheint das selbst zu merken. Man exekutiert ein Gesetz, das man falsch findet. Das ist natürlich rechtsförmig. Aber Frau Merkel hätte auch einfach schweigen können.

Es heißt, die Entscheidung betone die Gewaltenteilung. Hätte sich die Bundeskanzlerin dann aber nicht auch mit der Brandmarkung der inkriminierten Zeilen als „bewusst ehrverletzend“ zurückhalten müssen?
Mittlerweile hat ja Frau Merkel selbst eingeräumt, dass sie mit ihren Kommentaren einen schweren Fehler gemacht hat. Noch schlimmer ist aber das Grundsätzliche: der Kotau vor Erdoğan. Das heißt auf Deutsch: Wir sind erpressbar.

Zählen im Zweifel diplomatische Rücksichten in Deutschland also möglicherweise mehr als Kunst- und Meinungsfreiheit?
Die Frage zu Ihrer Frage lautet: Für wen? Für Frau Merkel zählen die diplomatischen Rücksichten mehr als die Meinungsfreiheit. Ich halte das für ein Armutszeugnis. Und ausnahmsweise scheinen die meisten Deutschen in dieser Frage Frau Merkel einmal nicht zu folgen. Das stimmt mich optimistisch.

Gibt es auch positive Auswirkungen der Affäre? War sie nötig, damit der veraltete Paragraf nun abgeschafft wird? Haben wir uns noch einmal über die Grundlagen der Meinungsfreiheit verständigt? Werden die „dunklen Seiten“ von Präsident Erdoğan nun stärker thematisiert?
Zu all diesen Fragen: Ja. Freiheit ist nicht das liebste Kind der Deutschen. Deshalb ist jedes Ereignis wichtig, das uns die Bedeutung und die Bedrohung der Freiheit zeigt. Und was Europa von Erdoğans Türkei zu erwarten hat, ist jetzt wohl auch dem Letzten klar geworden.

Arbeitsanregung

Einen Debattierwettbewerb zur „Causa Böhmermann“ veranstalten

Losen Sie aus, wer in einem öffentlichen Streitgespräch jeweils die Pro- und die Kontra-Position vertritt. Bereiten Sie sich individuell und im Team darauf vor, den Standpunkt, der ihnen zugelost wurde, zu verteidigen. Recherchieren Sie hierfür Argumente und Beispiele, die Ihre Position stützen oder die Position der Gegenpartei schwächen. Einigen Sie sich auf die Debattierregeln.

a) Einzelaufgabe: Fassen Sie zur Vorbereitung der Debatte die Eckpunkte der Böhmermann-Affäre zusammen, und formulieren Sie einen Bericht, der die wichtigsten W-Fragen beantwortet.

b) Gruppenaufgabe: Führen Sie einen Debattierwettbewerb mit mehreren Sprechern zu folgenden drei Fragen durch:

  • War es richtig, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel dafür aussprach, den Antrag der türkischen Regierung auf strafrechtliche Verfolgung des Satirikers Jan Böhmermann nach dem „Majestätsbeleidigungs“-Paragrafen zuzulassen?
  • Sollte man den Text des Schmähgedichts von Jan Böhmermann veröffentlichen, damit sich die Bevölkerung eine Meinung darüber bilden kann? (Komplett zitiert wurde es zum Beispiel im Deutschen Bundestag; heute ist die öffentliche Wiederholung juristisch teils verboten.)
  • Handelt es sich bei dem Böhmermann-Gedicht überhaupt um Satire, die von der Meinungs- und Pressefreiheit geschützt ist?

c) Plenumsaufgabe: Wählen Sie den Debattiersieger anhand der Kriterien: Sachkenntnis, Ausdrucksvermögen, Eingehen auf den Gegner und Überzeugungskraft.

Weitere Tipps:

„So läuft eine Debatte ab“ auf jugend-debattiert.de

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