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„Leutemangel“: Mit diesem Begriff beschrieben Landwirt:innen um 1880 im Deutschen Kaiserreich ihre Suche nach Hilfe für die Arbeit auf den Feldern. Denn viele Mitbürger:innen waren nach Übersee ausgewandert oder schufteten in der aufstrebenden Textil-, Eisen- und Stahl­produktion. Unter­stützung kam schließlich aus Polen so wie in den 1960er-Jahren aus Italien und Griechenland. Die Geschichte zeigt: Ein Mangel an Arbeits­kräften ist in Deutschland keine Ausnahme. Weitgehend neu jedoch ist, dass die Bundes­republik gegen­wärtig auf einen Fach­kräfte­mangel zusteuert eine Situation, in der nicht alle offenen Stellen für qualifizierte Fachkräfte mit Arbeits­suchenden besetzt werden können. Es fehlt laut einer Auswertung des Instituts der Deutschen Wirtschaft bereits heute vor allem Personal bei der Sozial­arbeit und -pädagogik, bei Erzieher:innen, in der Pflege, in der Bau­elektrik, der Sanitär-, Heizungs- und Klima­technik sowie der Informatik. Einen flächen­deckenden und branchen­über­greifenden Fach­kräfte­mangel erwarten Expert:innen in Deutschland bis 2030.

Demografischer Wandel und Bildung

Als Grund für den Fachkräftemangel gilt der demografische Wandel. Die deutsche Gesellschaft altert, und da die zahlen­mäßig starken Jahr­gänge der Baby­boomer langsam in Rente gehen, steigt die Zahl der Ruhe­ständler bis 2030 massiv an. Zugleich sinkt die Zahl der Erwerbs­tätigen. Ein weiterer wichtiger Faktor für den Fach­kräfte­engpass und -mangel ist außerdem die Bildungs­lücke. Sie entsteht nicht zuletzt durch die voran­schreitende Digitalisierung, die eine beständige Anpassung an die Anforderung der modernen Wirtschaft erforderlich macht.

Politiker:innen versuchen deshalb, dem Fach­kräfte­mangel durch verschiedene Maßnahmen entgegen­zuwirke und diskutieren Vorschläge von Ökonom:innen und Forschenden wie die Aktivierung der stillen Reserve, die Erhöhung der Lebens­arbeits­zeit, die 42-Stunden-Woche oder das Potenzial der Immigration.

Andreas Gulyas
© privat

Andreas Gulyas promovierte 2017 an der University of California, Los Angeles in Wirtschafts­wissenschaften und ist inzwischen Junior­professor an der Universität Mannheim. Zu seinen Forschungs­schwer­punkten zählen Arbeits­märkte, wie z.B. die Auswirkungen von Transparenz auf Arbeitsmärkte, langfristige Auswirkungen von Arbeits­platz­verlagerungen und Einstellungs- und Trennungs­entscheidungen von Unternehmen.

Aktivierung der „stillen Reserve“

Die Arbeitsmarktforschung versteht unter dem Begriff der „stillen Reserve“ Menschen zwischen 15 und 64 Jahren, die dem regulären Arbeits­markt aus verschiedenen Gründen nicht zur Verfügung stehen, etwa weil sie in unbezahlte Care-Arbeit eingebunden sind. Laut dem Wirtschafts­wissenschaftler Enzo Weber sind vor allem die über 60-Jährigen in der „stillen Reserve“ wichtig. „Die Älteren sind eine Schlüssel­gruppe, ganz einfach deswegen, weil sie die Gruppe sind, die wächst. Da ist am meisten zu holen“, so der Experte vom Institut für Arbeits­markt und Berufs­forschung in Nürnberg in einem Gespräch mit dem ZDF. Diesen Menschen müssten Möglichkeiten zur Weiter­entwicklung und zu Tätigkeiten geboten werden, in denen sie ihre Kompetenzen einbringen können, ohne auszubrennen, durch kürzere und flexible Arbeits­zeiten sowie spannende Inhalte. Außerdem gelte es, politische Rahmen­bedingungen zu schaffen für die Mobilisierung der Frauen in der „stillen Reserve“. Denn Frauen bilden mit 57 Prozent den Haupt­teil dieser Gruppe, und sie sind dem Gender-Care-Gap zufolge überwiegend für unbezahlte Fürsorge-Arbeit zuständig. Daher müsse es auch vor dem Hinter­grund des Fach­kräfte­mangels verstärkt politische Anstrengungen für eine verlässliche Kinder­betreuung, Unter­stützung bei der Pflege, flexible Arbeits­zeit­konzepte und Homeoffice-Möglichkeit geben.

Ältere arbeiten länger

Die Deutschen gehen im Schnitt mit 64,4 Jahren in Rente, und da sie immer älter werden, diskutieren Ökonom:innen die Erhöhung der Lebens­arbeits­zeit als Maßnahme gegen den Fach­kräfte­mangel. Der Präsident des Arbeit­geber­verbandes Gesamt­metall Stefan Wolf fordert deshalb die Berufs­tätigkeit bis 70 Jahre. Für diese Idee wird er jedoch von Gewerkschaften und Sozial­verbänden nicht zuletzt deshalb kritisiert, weil viele Menschen ihren Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht länger ausüben könnten, in der körperlich wie psychisch anstrengenden Pflege beispiels­weise. Tatsächlich hat sich die Dauer des Erwerbs­lebens in Deutschland bereits in allen Bildungs­schichten und Berufs­feldern sowie bei Männern und Frauen verlängert, und nach Ansicht Enzo Webers bietet die längere Lebens­arbeits­zeit tatsächlich Potenzial: „Wenn Ältere über 60 Erwerbs­quoten hätten wie Menschen, die fünf Jahre jünger sind, würden wir dadurch knapp zwei­einhalb Millionen Arbeits­kräfte gewinnen für den deutschen Arbeits­markt“, so der Wirtschafts­wissenschaftler gegenüber dem Bayerischen Rundfunk.

42-Stunden-Woche

Zwei Stunden pro Woche mehr zu arbeiten, schlägt hingegen der Wissenschafter und Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft Michael Hüther vor. Dies entlaste auch das Renten­system. Die 42-Stunde-Woche ist laut Arbeits­zeit­gesetz rechtlich möglich, birgt aber, so die Kritik der Gewerkschaften, die Gefahr von krank­heits­bedingten Ausfällen. In der Tat nimmt das Unfall­risiko bei längeren Arbeits­zeiten Studien zufolge zu.

Arbeitslose einsetzen

Immer wieder steht bei Diskussionen um den Fachkräfte­mangel auch die Frage im Raum, ob sich nicht einfach die Arbeits­losen­quoten senken lasse, um den Fach­kräfte­mangel aus­zu­gleichen. Das Problem: Die Passung stimmt gemäß Bundes­agentur für Arbeit häufig nicht.

Etwa die Hälfte der Arbeitslosen verfügt über keine abgeschlossene Berufs­ausbildung, und nur wenige offene Stellen eignen sich für Gering­qualifzierte. Dann gibt es Arbeits­lose mit Berufs­ausbildung – aber die ist auf dem Arbeits­markt leider nicht gefragt. So konkurrieren in Deutschland 25 arbeitslose Fachkräfte der Musik­pädagogik um eine gemeldete offene Stelle. Ein arbeits­loser Mechatroniker kann hingegen rein rechnerisch unter fünf passenden Stellen­angeboten auswählen.

Zuwanderung

Potenzial bietet die Einwanderung ausländischer Fachkräfte. Laut Berechnungen des Instituts für Arbeits­markt- und Berufs­forschung der Bundes­agentur für Arbeit bräuchte Deutschland jedes Jahr 400.000 Netto­zugewanderte für die Abmilderung des Fach­kräfte­mangels. Nicht zuletzt auf Grundlage solcher Zahlen beschloss die Bundes­regierung im Juni 2023 das Fach­kräfte­einwanderungs­gesetz. Es soll Zuwanderer:innen mit fachlicher Kompetenz aus Ländern außerhalb der Europäischen Union die Einreise nach Deutschland erleichtern beispiels­weise indem Berufs­abschlüsse unkomplizierter anerkannt werden. Dieses Gesetz gehe in die richtige Richtung, sagt die Wirtschafts­weise Monika Schnitzer. Es reiche aber nicht aus. Es brauche vielmehr eine Willkommens­kultur und Ausländer­ämter, die Einwander:innen echten Service bieten. „Wir sollten nicht für jeden Job fordern, dass die ausländischen Fachkräfte Deutsch können. Sondern dafür sorgen, dass die Mitarbeiter der Ausländer­behörde Englisch können“, so die Expertin, die den Sachverständigen­rat der Bundes­regierung leitet.