ZEIT für die Schule
Hybrid in die Zukunft
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Herr Kantereit, haben Sie bereits vor dem Lockdown Erfahrungen mit hybridem oder digitalem Unterricht gesammelt?
Ja. Wir haben hier in Bremen seit fünf Jahren eine Lern­platt­form installiert, die ich mit meinen Schüler*innen nutze. Ich habe außerdem Flipped-Classroom-Modelle ausprobiert, für die ich die Lern­inhalte vor der Präsenzveranstaltung in Videoform zur Verfügung gestellt habe. Die Schüler*innen mussten bei mir in Mathe und Geografie außerdem regel­mäßig eigene Audios und Erklärvideos erstellen.

Ich bin, zum einen, relativ technikaffin. Zum anderen ist mir bewusst, dass wir in einer Kultur der Digitalität leben. Im späteren Berufs­leben werden digitale Medien immer wichtiger, und damit die Kluft zwischen schulischer Bildung und der Wirtschaft nicht ins Unermessliche steigt, habe ich digitale Formen des Lernens immer in den Unterricht eingebunden. In der ersten Phase des Lockdowns waren diese Vor­kenntnisse sicherlich nützlich. Deshalb habe ich „Working Out Loud“ betrieben und durch transparente Arbeits­prozesse andere an meinen Erfahrungen teil­haben lassen.

Welche Vorteile bringt der Hybridunterricht mit sich?
Hybrides Arbeiten bedeutet, dass man den Präsenz­unterricht mit Fernvunterricht mischt. Hier ergeben sich ganz verschiedene Spiel­möglichkeiten. Man kann durch den digitalen Kontext beispiels­weise sehr stark individualisieren und neue Chancen der Vernetzung wahrnehmen. So können Lehrkräfte über Programme wie „Meet an expert“ Wissen­schaftler*innen per Video­konferenz in die Schule einladen. In der Begabten­förderung lassen sich leistungs­starke Schüler*innen punktuell fort­geschritteneren Klassen zuschalten. Genauso sind digitale Projekt­wochen mit schul­über­greifend landes­weiten Arbeits­gruppen denkbar. Die Möglichkeiten, sich als Schule nach außen zu öffnen, sind wirklich sehr groß.

Tim Kantereit
© privat

Tim Kantereit, unterrichtet Mathe und Geografie und ist Ausbilder angehender Lehrer*innen für Mathe­matik am Landes­institut für Schule in Bremen. 2020 gab er das Buch „Hybrid-Unterricht 101. Ein Leitfaden zum Blended Learning für angehende Lehrer:innen“ heraus. Darin haben 33 Autoren und Autorinnen Ideen und Impulse zur Verzahnung von Präsenz­unterricht und Online-Distanz­unterricht zusammen­getragen. Ebenso ist Tim Kantereit Mit­heraus­geber des Buchs „Agilität und Bildung“, dessen erste Auflage im März 2021 erschien.

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Solche Konzepte weisen sicher auch unabhängig von der Pandemie in die Zukunft?
Ganz genau. Derzeit stecken viele Kolleg*innen und Start-up-Unter­nehmer*innen ihre Energie in die Digitalisierung des Unterrichts. Die Lösungen über­brücken nicht nur die Zeit in der Pandemie gut, sondern sie schaffen wirklich einen Mehrwert für die Schule. Das wird nicht ohne Konsequenzen bleiben: Die starke Vernetzung führt vielleicht dazu, dass sich Hierarchien an den Schulen weiter verflachen. Lehrende erhalten dadurch eine neue Rolle – weg vom Hüter des Wissens­monopols hin zu dem, was in der Wirtschaft als „Servant Leader“ bezeichnet wird. Die „dienende Führungs­kraft“ ermöglicht den Schüler*innen in erster Linie ein Umfeld, in dem sie optimal miteinander arbeiten können.

Welche Tipps geben Sie Lehrkräften bei der Vorbereitung eines hybriden Unterrichts?
In der aktuellen Situation gibt es verschiedene Möglichkeiten. Zu einem kann man auf ein rollierendes System zurückgreifen, den Wechsel­unterricht. Hierbei ist eine Gruppe zu Hause und erhält einen Arbeitsauftrag, der täglich oder am Ende der Woche erledigt abzugeben ist. Die Lehrkraft meldet dann entsprechend rück, wie die Aufgabe bewältigt wurde, entweder per Audio oder im Video. Die andere Gruppe lernt während­dessen in halber Klassen­stärke in der Schule.

Mein erster Tipp lautet: Plant den kompletten Unterricht digital. In der Präsenz können die Schüler*innen dann vor Ort bei den gestellten Aufgaben unter­stützt werden. Denn wenn man doppelt plant – digital und in Präsenz – führt das bei verschiedenen Kursen schnell zur Überlastung.

Eine weitere Möglichkeit für Hybrid­unterricht ist, alle Schüler*innen gemeinsam per Live-Schalte zu unterrichten. Die einen in der Klasse, die anderen zu Hause – das kommt bei meinen Schüler*innen gut an.

Das setzt voraus, dass genug iPads vorhanden sind.
Ja, die technische Ausstattung mit WLAN und Videokonferenz-Software ist immer die Grund­voraus­setzung. Und bei uns in Bremen gegeben. Phasen der Zusammen­arbeit gestalte ich so, dass ich Teil­gruppen­sitzungen in den Video­konferenzen ermögliche. Manchmal machen wir es sogar so, dass die Schüler*innen aus dem Klassen­zimmer in Kleingruppen aus der Distanz­lehre gehen.

Dass es sich so mischt, hat sich bei uns einfach so ergeben, und daraus leite ich Tipp Nummer zwei ab. Er lautet: Einfach machen! Und keine Angst vor Fehlern haben! Fehler passieren natürlich – und man muss reflektieren, warum es dazu kam und wie sie sich künftig vermeiden lassen.

Das letzte Modell, das sich hybrid zur Anwendung eignet, ist ein offener, projekt­artiger Unterricht. In einem solchen Setting gibt man als Lehrkraft kaum Input, die Schüler*innen recherchieren selbst­ständig. Ob das nun im Klassen­raum statt­findet oder woanders, ist letztlich egal. Da können sich die Schüler*innen auch mal auf eigene Initiative hin für fünf Minuten in einer Video­konferenz zusammen­schließen – so wie sie es ja ohnehin machen, wenn sie beim Lernen per WhatsApp miteinander verbunden sind und sich bei Problemen gegen­seitig helfen.

Wie sieht es mit dem „Einfach machen“ in Bezug auf den Datenschutz aus?
Ich würde europäische Software verwenden – am besten deutsche Software –, dann ist man auf der relativ sicheren Seite. Und wenn es sich um Software handelt, die aus dem Ausland kommt – aus USA –, dann wäre es gut, darauf zu achten, dass sie beispiels­weise DSGVO-konform ist – aber da wird es schon wieder kompliziert.

Könnte man sich dann an einen IT-Spezialisten aus dem Kollegium wenden?
Ja. Grundsätzlich sollte sich die Vernetzung, die unter den Schüler*innen statt­findet, auch auf die Lehr­kräfte erstrecken. Denn wenn wir in einer Kultur der Digitalität leben und häufig Neuland betreten, ist Teilen eine ganz wichtige Ressource. Von informellen Settings, Mikro­konferenzen, bei denen man sich in kleiner Runde zusammen­setzt und etwas erörtert, profitieren außerdem alle besonders stark.

„Einfach machen“ bleibt, auch wenn es zunächst banal klingt, wirklich mein ultimativer Tipp. Es lohnt sich kaum, zu viel Zeit in die Ausarbeitung zu stecken – besser ist es, direkt in die Praxis zu gehen und sich dabei mit anderen aus­zu­tauschen, und selbst zu beobachten: Wie geht es mir, wie den Schüler*innen? Welche Rück­meldungen erhalte ich von ihnen, vielleicht im Rhythmus von zwei Wochen? In der Wirtschaft wird dieser Ansatz als „Inspect And Adapt“ bezeichnet: beobachten und verändern. Dieser Prozess lässt sich sehr gut auf Schulen übertragen.