Frau Müller, was genau ist Cybergrooming?
Tanja Müller: Von „Cybergrooming“ spricht man, wenn Menschen im Internet Kontakt zu anderen aufnehmen, um sie durch eine perfide Strategie der Vertrauensbildung zu sexuellen Handlungen zu bewegen. „Cyber“, weil die Kontaktaufnahme im Internet stattfindet, und „Grooming“ kommt aus dem Englischen und meint das vorsichtige Anbahnen.
Tanja Müller vom SOS-Kinderdorf Worpswede ist Kinderschutz-Expertin und bietet Fortbildungen und Beratungen zu Kinderschutz, Prävention und Konfliktberatung an.
Wer sind die Täter:innen, und welche Strategie verfolgen sie?
Es ist ganz wichtig zu betonen, dass es sich zwar bei den meisten Sexualtäter:innen um Männer handelt – aber nicht nur. Schätzungen zufolge ist darunter etwa ein Viertel Frauen. Den meisten Täter:innen geht es beim Cybergrooming um die Ausübung von Macht, durch die sie sexuelle Befriedigung bekommen. Das sieht oft so aus, dass sie sich über vermeintlich harmlose Fragen das Vertrauen der Personen erschleichen. Nach anfänglichen Komplimenten wird zum Beispiel nach Nacktfotos gefragt, dann nach persönlichen Treffen, und am Ende kann das bis zum sexuellem Missbrauch führen. Das Perfide dabei ist, dass sich die Betroffenen oft selbst schuldig fühlen, weil sie den Täter:innen vertraut haben und sie vielleicht auch wussten, dass sie zum Beispiel keine Nacktbilder verschicken sollten, auf denen sie zu erkennen sind.
Um welche Tatbestände geht es noch?
Es ist für Betroffene, aber auch für die Eltern und Lehrkräfte wichtig zu wissen, dass im Netz keine Straffreiheit herrscht. Unerwünschte „Dick Pics“, also Fotos von Penissen, die Jungs oder Männer verschicken, die Erpressung mit Nacktbildern von anderen Personen, überhaupt sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Minderjährigen – all das ist strafrechtlich relevant und kann zur Anzeige gebracht werden. Da geht es nicht um Kavaliersdelikte, sondern um sexuelle Nötigung bis hin zum Missbrauch.
Wer sind die Betroffenen? Gibt es ein bestimmtes Beuteschema?
Unerwünschte Nachrichten oder Fotos zu bekommen kann wirklich jede und jeden treffen. Fast jede minderjährige Person – ob Junge oder Mädchen – hat im Netz schon solche Kontaktaufnahmen erlebt. Die geschehen bei den Täter:innen nämlich erst mal wahllos. Ob auf Instagram, über den Chat eines Onlinespiels oder bei anderen Messengern – auch ich habe schon solche Nachrichten bekommen. Viele reagieren erst gar nicht auf die Nachrichten, doch wenn nur wenige antworten und sich in ein Gespräch verwickeln lassen, haben sich die Mühen für die Täter:innen schon gelohnt. Ein Faktor für den Erfolg des Cybergrooming ist sicherlich die Unsicherheit der jungen Menschen, die die Täter:innen für sich zu nutzen wissen. Komplimente, Aufmerksamkeit oder Versprechungen steigern das Selbstwertgefühl der Betroffenen. Dadurch bauen die Täter:innen Vertrauen auf – und das nutzen sie dann unverfroren aus.
Wenn es also scheinbar harmlos anfängt: Ab wann sollte man den Kontakt abbrechen?
Die Grenzen zwischen harmlosen Nachrichten und bösen Absichten sind für die Betroffenen und auch für Außenstehende natürlich nicht immer gleich zu erkennen. Nicht hinter jeder Nachrichtenanfrage steckt ein:e Pädophile:r. Dieses Gefühl sollte jungen Menschen auch nicht vermittelt werden. Wenn Nachrichtenverläufe aber eine unangenehme Wendung nehmen, sollte Schluss sein. Das muss man wirklich predigen: Wenn es unangenehm wird, hört auf! Oder holt euch Rat oder Hilfe – und zwar schnell!
Wie sieht diese Hilfe aus? An wen können sich Betroffene wenden?
Die ersten Ansprechpersonen junger Menschen sind in der Regel die Freund:innen oder die Eltern. Oft hilft schon ein Blick von außen, um zu erkennen, dass da was faul ist. Ganz wichtig ist aber, dass Straftaten – etwa wenn ein erwachsender Mann einer oder einem Minderjährigen ein Penisfoto schickt – angezeigt werden können. In solchen Fällen ist die Polizei die richtige Ansprechpartnerin, wobei man leider feststellen muss, dass viele Beamte für das Thema noch nicht genügend sensibilisiert sind und Betroffene mit einem noch größeren Schuld- oder Schamgefühl vom Polizeirevier zurückkommen. Da muss sich dringend etwas ändern. Übrigens auch in den Schulen: Meine Kinder nutzen in der Schule ein Tablet. Allerdings wurden die Schüler:innen nie explizit aufgeklärt über die Vor- und Nachteile oder die Gefahren im Internet. Medienpädagogik muss unbedingt ein Schulfach sein, um die Schüler:innen auf der Höhe der Zeit abzuholen. Für Lehrkräfte ist das durch Fortbildungen oder Schulungen zu dem Thema ja kein Problem. Die Schüler:innen kommen mit Cybergrooming meistens leider zuerst durch eigene Erfahrungen in Berührung.
Wie geht man als Lehrkraft mit den Betroffenen um?
Einerseits geht es um die Aufklärung: Lehrkräfte sollten den Schüler:innen vermitteln können, dass sie sich auskennen und Cybergrooming oder andere Themen ernst nehmen. Andererseits sollten sie natürlich auch den zwischenmenschlichen Rahmen schaffen, in dem die Schüler:innen sich selbst ernst genommen fühlen und sich trauen, darüber zu sprechen – ob in einer Sprechstunde oder durch informelle und vertrauliche Gespräche. Wenn sich eine betroffene Person offenbart, hat die Lehrkraft eine Vermittlerfunktion. Das heißt, sie leitet an die Polizei oder an Hilfestellen weiter. Es gibt auch Hilfe-Hotlines wie die „Nummer gegen Kummer“.
Wenn wir darüber sprechen, wie wir Betroffenen helfen können, müssen wir auch darüber sprechen, wie wir zukünftigen Täter:innen das Anbahnen schwer machen.
Ganz genau. Wäre Cybergrooming im Schulunterricht ein regelmäßiges Thema, würde man potenziellen Täter:innen klarmachen, dass die Schüler:innen aufgeklärt sind und dass die Konsequenzen für ein solches Verhalten nicht unterschätzt werden sollten. Nicht jede Täterin oder jeder Täter lässt sich davon abhalten, doch jede betroffene Person weniger ist diese Anstrengung unbedingt wert.
Noch mehr zum Thema Cybergrooming
In dem beliebten Jugendpodcast „ICH & WIR“ von SOS-Kinderdorf spricht Kinderschutz-Expertin Tanja Müller mit dem Moderatoren-Duo Lukas Linder und Jolina Ledl und einer Betroffenen über die Gefahr im Netz. Sie geben hilfreiche Tipps, was Betroffene zwischen 12 und 25 Jahren unternehmen können, um aus dem Teufelskreis wieder auszusteigen. Ob Schüler:in oder Lehrer:in – Reinhören lohnt sich!