ZEIT für die Schule
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Manche Schülerinnen und Schüler denken und handeln anders: Sie lassen sich leicht ablenken, lesen stockend oder meiden Blick­kontakt. Erwachsene interpretieren dieses Verhalten oft falsch. Wenn Kinder aus mangelnder Konzentration den Klassen­clown spielen und so den Unterricht stören, wird ihr Verhalten zum Beispiel als Provokation gewertet. Dabei brauchen neuro­divergente Kinder keine Maß­regelung, sondern gezielte Aufmerksamkeit.

Doch was genau bedeutet eigentlich Neurodivergenz? Der Begriff – auch bekannt als Neurodiversität – hat in den letzten Jahren deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen. Immer mehr Menschen, insbesondere Kinder, erhalten Diagnosen wie ADHS oder Autismus. Sie denken, fühlen und lernen anders als sogenannte neuro­typische Kinder. Neuro­divergenz ist dabei keine offizielle Diagnose, sondern ein Sammel­begriff für kognitive Besonderheiten. Zu den häufig genannten Formen der Neuro­divergenz zählen neben ADHS und Autismus auch das Tourette-Syndrom und Dyskalkulie. In Fachkreisen wird zudem diskutiert, ob Hoch­begabung und Hyper­sensibilität ebenfalls unter diesen Begriff fallen sollten.

Jedes Kind denkt und lernt anders

Im Klassenzimmer wird schnell deutlich, dass jedes Gehirn anders funktioniert. Hier bringt jedes Kind seine eigenen Stärken, Schwächen und Charakter­eigenschaften mit. Doch der Unterricht orientiert sich in der Regel an den Fähigkeiten neuro­typischer Kinder: Er setzt voraus, dass Schülerinnen und Schüler sich rund 50 Minuten konzentrieren können, soziale Signale verstehen oder nach Plan lesen lernen.

Neurodivergente Kinder passen nicht immer in dieses Raster. Sie erleben den Unterricht oft als Heraus­forderung: Manche kommen nicht mit, andere langweilen sich schnell, wieder andere sind reiz­über­flutet und stoßen dadurch an soziale Grenzen. Sie versuchen sich anzupassen und verbrauchen dabei enorme Energie. Lernen wird so schnell mit Frust oder Scham verknüpft. Mit einer offenen Haltung und gezielten inklusiven Maßnahmen lässt sich das vermeiden – und neuro­divergente Kinder können im Unterricht Selbst­vertrauen entwickeln.

Neurodivergenz im Schulalltag erkennen

Wie sich Neurodivergenz im Schulalltag zeigt, ist individuell verschieden. Kinder mit ADHS fallen häufig durch ihre Konzentrations­probleme auf: Manche ziehen sich in ihre eigene Traumwelt zurück, andere werden laut, suchen Ablenkung oder stören den Unterricht. Um Neuro­divergenz im Schul­alltag zu erkennen, hilft es, sich mit den verschiedenen Diagnosen und Symptomen vertraut zu machen. Besonders bei Mädchen bleiben Diagnosen wie ADHS oder Autismus oft unerkannt, da sie sich durch ihre Sozialisierung stärker anpassen.

Wichtig ist: Mit den Kindern ist nichts „falsch“. Ihr Verhalten entsteht, weil ihre Gehirne Reize anders verarbeiten. Eine Studie des Erziehungs­wissenschaftlers Prof. André Zimpel zeigt, dass Kinder mit Autismus im gleichen Zeitraum deutlich mehr Sinnes­eindrücke aufnehmen als neuro­typische Kinder. Das erklärt, warum sie empfindlicher auf Geräusche, Licht oder soziale Situationen reagieren. Ähnliches gilt auch für andere Formen von Neuro­divergenz. Kinder mit ADHS etwa langweilen sich schneller, wenn der Unterricht sie nicht anspricht.

Lernen ohne Scham – wie Inklusion gelingen kann

Um den Unterricht inklusiver zu gestalten, gibt es kein Patentrezept. Je nach Form der Neuro­divergenz brauchen Kinder unterschiedliche Unter­stützungs­angebote. Kinder mit ADHS profitieren von Bewegungs­zonen im Klassen­zimmer, um ihre Energie zu regulieren. Für Kinder mit Autismus können Ruhezonen hilfreich sein, um Reiz­über­flutung abzubauen. Wenn der Platz für Bewegungs- oder Ruhezonen begrenzt ist, können auch Fidget-Spielzeuge wie sensorische Bälle oder Klick­würfel dabei helfen, innere Unruhe zu mindern. Außerdem lohnt es sich, über einen Nach­teils­ausgleich nach­zu­denken: Kinder mit Dyslexie etwa könnten von längeren Bearbeitungs­zeiten und angepassten Aufgaben­stellungen profitieren. Mehr Informationen zu inklusiven Maßnahmen finden Sie in diesem kostenlosen Leitfaden.

Was fällt alles unter Neurodivergenz?

ADS/ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyper­aktivitäts-Störung): Etwa fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen haben ADHS. Die Diagnose ADHS zeichnet sich aus durch Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyper­aktivität. Im Unterricht äußert sich das etwa durch vermehrte Flüchtigkeits­fehler, motorische Unruhe sowie Schwierig­keiten, Aufgaben zu Ende zu bringen. Unbehandeltes ADHS kann in manchen Fällen zu einem verminderten Selbst­wert­gefühl und Depressionen führen.

Autismus (Autismus-Spektrum): Etwa ein Prozent der Bevölkerung sind auf dem Autismus-Spektrum. Betroffene haben Heraus­forderungen bei sozialen Interaktionen. Manchen zeigen kein Interesse an ihrem Umfeld und ziehen sich in ihre eigene Welt zurück. Oft fällt es Betroffenen schwer, Blick­kontakt zu halten und zwischen den Zeilen zu lesen. Kinder mit Autismus können schnell über­fordert sein, wenn Struktur oder Routine plötzlich wegfallen.

Tourette-Syndrom bzw. Tics: Das Tourette-Syndrom ist eine chronische Tic-Störung. Tics sind etwa Laute oder Bewegungen, die plötzlich und unkontrolliert auftreten. Dazu können motorische Tics gehören wie Blinzeln oder bestimmte Gesten sowie vokale Tics, wie etwa Schniefen oder Wort­wiederholungen. Schätzungen zufolge haben etwa ein Prozent aller Kinder und Jugendlichen Tourette. Im Grund­schul­alter erleben etwa 10 bis 15 Prozent der Kinder Tics, die jedoch vorüber­gehend sind.

Dyslexie: Von Dyslexie bzw. einer Lese-Rechtschreib-Störung spricht man, wenn Kinder trotz Beschulung und ohne Intelligenz­minderung Probleme beim Lesen oder Recht­schreiben haben. Sie brauchen länger, um Lesen zu lernen und haben Schwierig­keiten, die Inhalte von Texten zu erschließen. Recht­schreib­fehler kommen häufiger vor und folgen keinem klaren Fehler­muster. Dyslexie ist bei sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen verbreitet.

Dyskalkulie: Bei einer Rechenstörung wie der Dyskalkulie haben Kinder ohne Intelligenz­verminderung und trotz Beschulung Probleme dabei, Rechenaufgaben zu verstehen und zu lösen. Arithmetisches Denken sowie der Umgang mit Zahlen lösen bei ihnen Schwierigkeiten aus. Dyskalkulie ist unter sieben Prozent der Kinder verbreitet.

Dyspraxie: Auch bekannt als motorische Koordinationsstörung. Kinder mit Dyspraxie haben eine gestörte Grob- und Feinmotorik, was sich in Balanceproblemen oder Schwierigkeiten beim Einschätzen der eigenen Kraft äußern kann. Dyspraxie ist bei etwa sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen verbreitet.